Bei der folgenden Rezension lassen sich gewisse Spoiler über eine allerdings recht früh stattfindende überraschende Wendung kaum vermeiden, das als Warnung vorausgeschickt. Allerdings erfährt man im Grunde genommen in jeder Art von Berichterstattung über den Film diesen Spoiler, wer ihn also komplett unwissend sehen will, sollte sich von jeglicher Kritik fernhalten ...

MIDNIGHT IN PARIS:

Gil (Owen Wilson) ist ein erfolgreicher Hollywood-Drehbuchautor, der aber eigentlich ein "richtiger" Schriftsteller sein will und seinen fertigen ersten Roman bereits in der Schublade liegen hat. Seine Verlobte Inez (Rachel McAdams) und ihre Eltern unterstützen seine Ambitionen jedoch nicht gerade, was an seinem Selbstvertrauen nagt. Als sie aufgrund eines Geschäftstermins von Inez´ Vater alle zusammen nach Paris reisen, blüht Gil auf, denn er hat schon immer von Paris und speziell von der legendären Pariser Künstlerszene in den 1920er Jahren geschwärmt. Wiederum kann Inez´ Gils Gefühle nicht nachvollziehen und die Entfremdung zwischen den beiden nimmt noch zu, als sie zufällig Inez´ Ex-Schwarm Paul (Michael Sheen) treffen, einen Intellektuellen, der seine Bildung aggressiv vor sich her trägt und damit nicht nur den armen Gil nervt, sondern auch das Publikum. Doch dann geschieht etwas Phantastisches: Als Gil nachts durch Paris streift, hält ein Oldtimer an und dessen fröhliche Insassen fordern ihn auf, einzusteigen und sie auf eine Party zu begleiten. [jetzt kommt der Spoiler!] Gil traut seinen Augen nicht, als er auf der Party u.a. Cole Porter und F. Scott Fitzgerald trifft, dann sogar Hemingway und Picasso! Wie durch ein Wunder ist er im Paris der 1920er Jahre gelandet, jener Epoche, nach der er sich immer gesehnt hat ...

Der Kinosommer 2011 wird wohl als Sommer der Nostalgie in die Filmhistorie eingehen. Die 1980er Jahre-Hommage "Super 8" ist das beste Beispiel dafür, auch die überraschend guten Prequels von "X-Men" und "Planet der Affen" erinnern an vergangene Jahrzehnte. Und nun kommt Altmeister Woody Allen daher, schafft seinen (nicht inflationsbereinigt) erfolgreichsten Film aller Zeiten und zudem seinen besten seit (IMHO) "Zelig" 1983 und entführt darin sein Publikum sogar in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts zurück. Man muß Woody Allen einfach lieben dafür, daß er die Chuzpe hat, so völlig ungeachtet des (vermuteten) Massengeschmacks einen Film in die Kinos zu bringen, den man eigentlich nur hundertprozentig genießen und verstehen kann, wenn man ein ziemlich guter Kenner der damaligen Kunstszene ist. Und daß dieser Film dann auch noch weltweit ein Erfolg wird, grenzt an ein mittleres Wunder!
Ich selbst muß bekennen, daß ich leider nicht wirklich ein Kenner der damaligen Zeit bin - aber immerhin reicht mein Wissen, um fast alle vorkommenden Namen zu kennen und zuordnen zu können (nur nach der Schriftstellerin Djuna Barnes mußte ich googlen ...) und auch zumindest etliche Anspielungen auf Leben und Werk der Künstler zu erkennen (aber einige sind mir garantiert entgangen). Das reicht auf jeden Fall, um Allens Kunstfertigkeit zu bewundern, aber es könnte natürlich noch besser sein. smile

Ein wenig irritiert es mich immer noch, daß Woody Allen seit einigen Filmen seine "eigene" Rolle nicht mehr selbst spielt, denn man erkennt überdeutlich, daß die jeweiligen Rollen eigentlich ihm selbst auf den Leib geschrieben sind - beziehungsweise einer jüngeren Version seiner selbst. Bei "Whatever Works" hat es mich nicht übermäßig gestört, weil Larry David Woody Allen einerseits ziemlich ähnlich sieht, andererseits aber seinen ganz eigenen Stil hat, um die Rolle einzigartig zu machen. Bei "You will meet a tall dark stranger" war Anthony Hopkins eine ziemlich ungeeignete Besetzung für die Rolle - aber da der Film sowieso ziemlich schlecht ist, hat es mich auch nicht weiter gestört. Nun ist es aber wirklich auffällig, denn Owen Wilson sieht Allen zwar nicht allzu ähnlich (wobei man schon ein paar Parallelen zum jungen Woody ausmachen kann), imitiert seine Gestik und Mimik aber wirklich verdammt gut (und trägt auch noch typische Woody-Kleidung grin )! Das ist natürlich eigentlich lobenswert, aber es irritiert mich einfach ein bißchen ...

Seinen Schauplatz Paris setzt Allen traumhaft in Szene, der wortlose (und für Allen ungewöhnliche) Prolog würde glatt als Werbefilm für Frankreichs Hauptstadt durchgehen. Die Schauspieler (darunter neben den bereits Genannten Kathy Bates, Adrien Brody, Marion Cotillard und Tom Hiddleston, der zu Beginn des Sommers bereits als Loki in "Thor" beeindruckte) machen ihre Sache gut, aber meiner Meinung nach gibt es diesmal keine herausragende Leistung einer einzelnen Person, die zu einer OSCAR-Nominierung führen könnte (wie z.B. Penélope Cruz in "Vicky Cristina Barcelona"). "Midnight in Paris" ist eher ein klassisches Ensemble-Stück, in dem es zudem so viele wichtige Nebenrollen gibt, daß außer Owen Wilson eigentlich kein Darsteller wirklich lange auf der Leinwand zu sehen ist.

Die Dialoge bewegen sich auf bewährtem Allen-Niveau - es gibt zwar wenige echte Dialog-Kracher, aber jede Menge feinen Humor und auch einige tiefgehende Gedankengänge. Das einzige, was mich wirklich gestört hat an diesem wunderbaren, traumhaften Film, ist, daß Inez, ihre Eltern und Paul übertrieben unsympathisch dargestellt werden. Natürlich hat das einen guten Grund, die Stellung dieser Figuren ist essentiell für die Botschaft des Films, das will ich gar nicht leugnen. Trotzdem: Nervende Charaktere ... nunja, nerven einfach. smile Nicht stark zum Glück, aber sie verhindern eine ansonsten durchaus mögliche Höchstwertung.

Auch so reicht es aber für sehr gute 9 Punkte für "Midnight in Paris": ein nostalgisches, humorvolles und intelligentes Kinovergnügen, das einen wohltuenden Kontrapunkt setzt zu den ganzen "Hangovers" und "Brautalarms" dieses Sommers ...