RABENKIND von Gerrit Harm:

Das kleine Dorf Dunkelbach, das während der Orkkriege zerstört worden war, inzwischen aber wieder aufgebaut und besiedelt ist, wird zum Ziel ganz unterschiedlicher Personen und Gruppierungen: Unter anderem taucht der kriegserfahrene Golgarit Garlon auf, der seine neue Stellung als örtlicher Boron-Geweihter antreten soll und während der Reise den Zwergenveteran Ortosch als Weggefährten gewinnt. Kurz vor den beiden ist der Magier Velin mit seinem Bruder, dem Söldner Brogg, in Dunkelbach eingetroffen, wo er das Grundstück eines während der Orkkriege spurlos verschwundenen Magus erworben hat. Auch eine Rotte Orks sieht Dunkelbach als lohnendes Ziel und das ist noch lange nicht alles ...

"Rabenkind" ist so etwas wie die Romanversion eines Episodenfilms. Die interessante Geschichte rund um das kleine Dorf am Rande der Wildnis wird aus erstaunlich vielen unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Das für sich ist schon gewöhnungsbedürftig und sicher nicht jedermanns Sache. Für meinen Geschmack gibt es eindeutig zu viele unterschiedliche Handlungsstränge, als daß alle erstens durchgehend interessant gestaltet werden und sie zweitens auch noch eine gewisse inhaltliche Tiefe entwickeln könnten (zudem gibt es immer wieder unschöne Perspektivwechsel selbst innerhalb kürzester Unterkapitel).

Die Charaktere wirken fast ausnahmslos klischee- und schablonenhaft, auch etliche überraschende Wendungen im Handlungsverlauf ändern daran wenig, weil die Figuren einfach nicht interessant genug dargestellt werden, um den Leser wirklich berühren zu können.

Das liegt auch und vielleicht sogar vor allem daran, daß die Dialoge ein großer Schwachpunkt des Romans sind. Dafür gibt es viele Gründe: Generell reden die handelnden Figuren viel zu oft künstlich und gewollt anstatt glaubwürdig und natürlich. Man merkt regelrecht, daß sie häufig nur das sagen, was der Leser nach Meinung des Autors an dieser Stelle erfahren soll (besonders augenfällig in der Kennenlernszene von Garlon und Ortosch, in der vor allem Garlon - immerhin ein schweigsamer Boron-Geweihter! - reichlich unmotiviert mal eben so seine ganze Lebensgeschichte erzählt ...). Lebendig wirken die Dialoge leider kaum einmal.
Dazu kommt, daß es kaum Unterschiede zwischen den immerhin sehr verschiedenen Charakteren gibt. Ob nun Boron-Geweihter, Bauer, Orkanführer, Magier oder Zwerg: Wer nur ihre Dialoge liest, ohne die Sprecher zu kennen, der wird kaum einen Unterschied bemerken! Athmosphärisch stört es einfach extrem, wenn man einen Ork kaum von einem Magier unterscheiden kann ... Ich konnte mich des stetigen Eindrucks kaum erwehren, daß es nicht die jeweiligen Personen sind, die reden, sondern eigentlich doch nur der Autor. Und das ist definitiv nicht gut.

Auch ansonsten gelingt es "Rabenkind" meiner Meinung nach kaum einmal, ein lebendiges Bild von Aventurien und seinen Bewohnern zu entwerfen. Ein Beispiel dafür ist eine Tavernen-Szene relativ zu Beginn des Buches, die dermaßen steril wirkt, daß ich unwillkürlich an eine ganz ähnliche Szene ziemlich am Anfang des allerersten "Drachenlanze"-Buchs denken mußte - die so wunderbar authentisch und glaubwürdig geschildert wurde, daß ich sie noch immer positiv im Gedächtnis habe (vielleicht auch etwas verklärt, aber auf jeden Fall sehr positiv)! Davon ist das Pendant in "Rabenkind" meilenweit entfernt.
Die Handlungsweisen vieler Personen sind zudem oft beinahe ebenso wenig nachvollziehbar wie ihre Dialoge (oder sogar noch weniger), dafür gibt es vor allem in der zweiten Buchhälfte immer wieder erstaunlich abrupte Meinungsänderungen ohne wirklich ersichtlichen Grund.

Als wäre das alles noch nicht nervig genug, kommt auch noch dazu, daß dieses Buch aber sowas von dringend einen guten Lektor benötigt hätte. Zwar macht der Autor kaum Rechtschreib- oder Grammatikfehler, aber dafür gibt es Flüchtigkeits- und Tippfehler in Hülle und Fülle (fehlende Buchstaben, falscher Bezug, gelegentlich ein fehlendes Wort, dazu des öfteren Wortwiederholungen selbst innerhalb eines Satzes). Sowas ist eigentlich inakzeptabel für einen Preis von immerhin 10 Euro ...

Wenn ich mich nicht irre, habe ich bisher genau eine positive Bemerkung über "Rabenkind" gemacht: daß die Handlung interessant sei. Das stimmt in der Tat, denn die Story macht eigentlich von Beginn an neugierig und auch wenn es gegen Ende arg viele Zufälle und Wendungen gibt, die auch nicht immer ganz glaubwürdig sind, habe ich mich letztlich die gesamten knapp 350 Seiten lang ordentlich unterhalten gefühlt. Natürlich immer wieder stark genervt aufgrund der handwerklichen Schwächen, aber letzten Endes ist mir bei einem Buch eine interessante Handlung eindeutig wichtiger als das ganze Drumherum. Das relativ offene Ende kann ich auch verschmerzen, einige komplett vorenthaltene oder schlicht vergessene Erklärungen zu bestimmten Geschehnissen oder auch Personen sind da schon ärgerlicher.

Letztlich vergebe ich gnädig die Schulnote 4.