Vor zwei Jahren hatte ich in diesem Topic ja vom ersten deutschen Kinomarathon in Augsburg berichtet. Damals waren es, glaube ich, sieben Filme am Stück, gestern fand nun eine etwas reduzierte Wiederholung mit vier Filmen am Stück von 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr statt (alle auf Englisch mit deutschen Untertiteln). Alle vier Produktionen laufen noch nicht regulär in Deutschland (zwei werden erst 2012 starten) und haben sehr gute Kritiken gemeinsam. Los ging es gleich mit dem Highlight des Tages:

DRIVE:

Ryan Gosling ("Crazy, Stupid, Love.", "Lars und die Frauen") spielt einen namenlosen und ziemlich schweigsamen Kfz-Mechaniker, der "nebenberuflich" als Stuntman beim Film sowie als Fluchtfahrer für Gangster arbeitet. Sein Leben verläuft eigentlich gut, bis er sich in seine neue, schöne Nachbarin Irene (Carey Mulligan, "An Education") verliebt. Um sie und ihren kleinen Sohn zu schützen, will der Driver dem gerade aus dem Knast entlassenen Ehemann Irenes (Oscar Isaac, "Agora", Ridley Scotts "Robin Hood") bei einem Überfall helfen, mit dem dieser seine Schulden bei einem Schutzgelderpresser begleichen will. Doch der Überfall läuft schief und fortan sind der Driver und alle, die er kennt, in höchster Gefahr ...

"Drive" hat ein ernsthaftes Zielgruppenproblem. Denn der Film des dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn ("Pusher"-Trilogie, "Valhalla") mixt europäisches Kunstkino virtuos mit amerikanischen Exploitation-Stilmitteln á la "Shaft" oder "Foxy Brown". Dummerweise ist die Zielgruppenüberschneidung dieser beiden Filmrichtungen eher gering. Und so wird "Drive" für die meisten der klassischen Arthouse-Zuschauer zu blutig sein und für die Actionfans zu langsam. Insofern ist es schon überraschend, daß "Drive" in den USA immerhin mehr als das doppelte seiner (mit $15 Mio. vergleichsweise geringen) Produktionskosten einspielen konnte. Das liegt sicherlich teilweise an einer fehlleitenden Werbekampagne, die den Film in die "Fast & Furious"-Ecke rücken wollte. Das funktionierte am Startwochenende, führte aber auch zu jeder Menge negativer Mundpropaganda wegen der nicht erfüllten Erwartungen. Umso erstaunlicher ist es, daß sich der Film dennoch auch in den Folgewochen besser als erwartet hielt. Offenbar erreichten die fast ausnahmslos euphorischen Kritiken jene potentiellen Zuschauer, die alleine von den Trailern eher abgeschreckt worden wären und diese sorgten dann auf lange Sicht offenbar für positive Mundpropaganda.

Aber bevor ich mich in den betriebswirtschaftlichen Details verliere, zurück zum eigentlichen Film: "Drive" fasziniert. Bereits der fast komplett dialogfreie Prolog begeistert mit der stylishen Inszenierung und Goslings ebenso stoischem wie coolen Mienenspiel. Danach gibt es lange Zeit erstmal keine Action mehr, dafür steht die ungewöhnlich zärtlich erzählte aufblühende Romanze zwischen dem wortkargen Driver und der sympathischen Irene im Mittelpunkt. Nebenbei werden auch noch die weiteren wichtigen Nebenfiguren eingeführt (dargestellt von Bryan Cranston aus "Breaking Bad", Christina Hendricks aus "Mad Men", Albert Brooks aus "Nachrichtenfieber" und Ron "Hellboy" Perlman). Nach dieser langen (trügerisch) friedlichen Phase von "Drive" wirkt die Eruption der Gewalt im letzten Drittel, nach dem mißglückten Überfall, umso drastischer und verstörender auf das Publikum.

Der einzige Kritikpunkt, den ich an "Drive" habe, ist, daß er den Nebenfiguren etwas zu wenig Sorgfalt widmet. Der Driver durchläuft eine deutliche Charakterentwicklung, auch bei Irene und ihrem Ehemann kann man nicht von Klischeecharakteren sprechen. Die anderen wichtigen Figuren jedoch, gerade die Bösewichte, hätten durchaus noch etwas tiefgehender gezeigt werden dürfen - gerade angesichts der sowieso recht kurzen Laufzeit von nur gut eineinhalb Stunden.

Stilistisch ist "Drive" dafür eine absolute Wucht. Das kann ich gar nicht richtig beschreiben, man muß es einfach sehen: "Drive" ist gleichzeitig extrem lässig, unheimlich intensiv und erstaunlich zärtlich. Eine wilde Mixtur, die - wenn man sich darauf einlassen kann - wunderbar funktioniert. Dazu tragen neben Winding Refns inspirierter Regie auch die wunderbare Kameraarbeit und die gelungene Auswahl aus sphärischen Independentsongs bei. Und Ryan Gosling beweist einmal mehr, daß er einer DER kommenden Superstars in Hollywood ist. Wie er in einer Rolle wie dieser mit geringsten mimischen Mitteln maximale Wirkung erzielen kann, sodaß man als Zuschauer stets die unter der makellosen Oberfläche bedrohlich brodelnde, beängstigende Aggressivität dieses Raubtiers von einem Menschen spüren kann - das können nicht viele Schauspieler seiner Altersgruppe bieten (DiCaprio, Norton, Gordon-Levitt ... sehr viel mehr fallen mir nicht ein). Gerade im Vergleich zu seiner Performance in "Lars und die Frauen", den ich zufällig vor zwei Wochen gesehen habe und in dem er eine zum Driver fast gegensätzliche Figur spielt, wird die Bandbreite seines darstellerischen Spektrums offenbar.

Fazit: "Drive" ist ein wilder Genremix, der sicher viele Zuschauer verschrecken wird. Wer jedoch offen für cineastische Experimente ist, der wird mit einem wunderbaren, stilistisch überragenden Film mit einem tollen Hauptdarsteller belohnt. 9 Punkte.

Die drei weiteren Kritiken folgen später ...