ANONYMOUS:

England, um 1600: Edward de Vere (Rhys Ifans), der Earl of Oxford, ist ein begnadeter Autor, doch als Adliger darf er seine Stücke höchstens in kleinstem Kreise am Hof der theaterbegeisterten Königin Elizabeth I. (in jungen Jahren: Joely Richardson; später: Vanessa Redgrave) aufführen lassen, aber keinesfalls vor dem gemeinen Volk. Also überzeugt er Ben Jonson (der relative Newcomer Sebastian Armesto), einen relativ erfolgreichen Theaterautor, die Stücke unter seinem Namen zu veröffentlichen. Jonson zaudert jedoch zunächst und gibt als Autor der ersten Aufführung nur "Anonymous" an - was der trinkfreudige Schauspieler William Shakespeare (Rafe Spall) nutzt, um sich nach der erfolgreichen Uraufführung dem Publikum als vermeintlicher Autor zu präsentieren. De Vere wiederum muß sich vor allem mit politischen Intrigen am Königshof herumschlagen ...

Nach all seinen spektakulären Big-Budget-Katastrophenfilmen hatte der deutsche Hollywood-Regisseur Roland Emmerich Lust auf was anderes. Das Drehbuch um den angeblichen echten Autor von Shakespeares Werken wollte er schon seit Jahren verfilmen, nun machte er es mit verhältnismäßig geringem Budget (gut $30 Mio.) in den Babelsberger Filmstudios wahr. Und der Versuch ist alles in allem geglückt - zumindest qualitativ, denn kommerziell scheint "Anonymous" bestenfalls auf ein PlusminusNull-Ergebnis hinauszulaufen.

Auch wenn es hier keine bombastischen Spezialeffekte gibt: Handwerklich ist Emmerich wieder einmal in die Vollen gegangen und hat eine sehr überzeugende, authentisch (also auch ziemlich schmutzig) wirkende Mittelalter-Atmosphäre geschaffen, ein paar Massenszenen gibt es auch und sogar die Musik von Emmerichs Stammkomponisten Harald Kloser und Thomas Wanker (deren Actionscores mich selten begeistert haben) ist sehr gelungen.

Zwiespältig ist die Handlung zu werten. Die Figurenkonstellation ist relativ stark dem klassischen Schwarz-Weiß-Schema verpflichtet, nur wenige Charaktere besitzen wirkliche Tiefe (allen voran de Vere, Jonson und vielleicht noch die Queen). Vor allem die Darstellung von Shakespeare nicht nur als Hochstapler, sondern auch noch als hinterhältige Knallcharge wirkt übertrieben. Die politischen Bösewichte William und Robert Cecil sind zwar auch nicht gerade originell ausgearbeitet, funktionieren aber deutlich besser - wie überhaupt der Handlungsstrang um de Veres Leben als Adliger wesentlich interessanter ausgefallen ist als der eigentliche Shakespeare-Strang.

Sollte Emmerich vorgehabt haben, mit seinem Film die - schon seit über einem Jahrhundert geführte - öffentliche Diskussion über den tatsächlichen Autor von Shakespeares Werken anzuheizen, so dürfte ihm das genau deshalb kaum gelingen. "Anonymous" nimmt sich historisch sowieso zahlreiche Freiheiten heraus und auch wenn er die wohl populärste Theorie der "Shakespeare-Skeptiker" vertritt, will der Film letzten Endes doch nur unterhalten. Was ihm gelingt.

Nicht unbedingt einen Gefallen getan hat sich Emmerich jedoch mit der mitunter wirklich exzessiven Verwendung verschiedener Zeitebenen (die schon damit beginnt, daß der bekannte Shakespeare-Darsteller Sir Derek Jacobi - selbst ein "Shakespeare-Skeptiker" - den Film in der Gegenwart als eine Art Erzähler "umklammert"). Zwar wirkt das auf den aufmerksamen Zuschauer weit weniger verwirrend als man vermuten könnte, dennoch bekommt man schnell das Gefühl, daß die vielen Zeitsprünge eine Komplexität der Handlung vorgaukeln sollen, die nicht vorhanden ist. Das schadet dem Filmgenuß zwar kaum, ist aber einfach überflüssig.

Was die schauspielerischen Leistungen betrifft, so wurde in den Medien die meiste Aufmerksamkeit und das meiste Lob Vanessa Redgrave als alternder Queen Elizabeth I. zuteil. Natürlich macht sie ihre Sache sehr gut, aber noch mehr beeindruckt hat mich der vor allem für seine Comedy-Rollen (z.B. in "Notting Hill" oder "Radio Rock Revolution") bekannte Waliser Rhys Ifans, der als Edward de Vere ungeahnte Qualitäten als dramatischer Darsteller offenbart. Bitte in Zukunft mehr davon! Die übrigen Schauspieler machen ihre Sache gut, ohne sonderlich glänzen zu können (dafür sind die Figuren wie gesagt etwas zu oberflächlich), anmerkenswert ist allerdings, daß die Darsteller der "Shakespeare"-Stücke, von denen im Filmverlauf etliche auszugsweise zu sehen sind, größtenteils von echten Schauspielern der Shakespeare Company gespielt werden - kurioserweise allerdings ausnahmslos von deutschen Schauspielern (was aber zumindest ich ihnen nicht angehört habe - ich sah den Film im Originalton mit Untertiteln). Und in einer Minirolle ist sogar Jonas "Wickie" Hämmerle zu sehen! smile

Fazit: "Anonymous" ist meiner Meinung nach durchaus als positive Überraschung zu werten. Zwar hat das Drehbuch seine Schwächen und die zahlreichen historischen Freiheiten werden Kenner der Ära möglicherweise verärgern - aber als farbenprächtiger Historienfilm funktioniert er richtig gut. Ich denke, wer die TV-Serie "Die Tudors" mochte, der wird auch mit "Anonymous" zufrieden sein. 8 Punkte.