Das mit den fadenscheinigen Gründen ist beispielhaft für die Ambivalenz der AKP-Regierung.

Einerseits bringt sie moderne Reformen ein, die sogar ich für gut halte. Das vielgescholtene neue Alkoholgesetz z.B. ist in Teilen nicht schärfer als bei uns hier. In der Theorie gibt es zahlreiche Verbesserungen der verkrusteten Gesetze. Sie wollen demnächst sogar eine Art Zivildienst neben dem Wehrdienst einführen - was für die Türkei geradezu revolutionär wäre.

Andererseits aber gibt es die immer weiter fortschreitende Machtkonsolodierung und Unterdrückung der Opposition (vor allem der außerparlamentarischen). Regimetreue Leute werden landesweit protegiert und befördert, während "Gegner" immer weniger Chancen haben.

Einerseits haben sie endlich den Verhandlungsweg mit der PKK bzw. mit anderen Kurdenführern eingeschlagen und könnten tatsächlich für ein Ende des Terrors sorgen.

Andererseits erwecken sie - sogar bei Liberalen - den Eindruck, daß dies nur aufgrund der Intervention von ausländischen Kräften geschehen ist... es gibt ja immer die latente Angst der Türken, daß verschwörerische Staaten (USA, Israel, England...) den Nahen Osten nach ihren Vorstellungen neu formen wollen. Dies ist größtenteil Panikmache, aber manche Entwicklung läßt sogar mich in Zweifel geraten - nicht zuletzt die possenhafte Positionierung gegen Syrien.

Alles in allem hat die AKP-Zeit zwar einiges Positives hervorgebracht. Aber sie bleibt eben vor allem durch die Wahrnehmung im Gedächtnis, daß zum einen die Islamisierung und der Machtausbau der Regierung ausgebaut wird... und daß zum anderen vor allem durch extreme und teilweise nicht nachvollziehbare Privatisierung - d.h. im Endeffekt Verkauf an ausländische Konzerne - das Land verramscht wird.

Und nun kommt eben noch die brutale Zerschlagung der Aufstände hinzu. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob die Unzufriedenen sich still und leise wieder ihrem Alltag widmen werden... oder ob der Protest ausgebaut und vor allem besser organisiert wird. So wurden zwar am Montag von verschiedenen Gewerkschaften Streiks ausgerufen - aber der Effekt auf das Land hält sich in sehr engen Grenzen. Wäre die Vergewerkschaftung landesweit stärker fortgeschritten, könnte man in der Hinsicht durchaus etwas machen, aber so...

Der schlimmste Punkt an der Sache ist jedoch die überraschend extreme Gleichschaltung der Medien - vom Staatsfernsehen bis zu den meisten privaten Sendern und Zeitungen. Es gibt kaum eine Handvoll Sender, die offen und ehrlich über die Aufstände berichten - der Rest folgt dem normalen Programm oder gibt die Situation verzerrt wieder. Ich hätte nicht erwartet, daß so gut wie alle TV-Sender und die meisten TV-Beschäftigten sich so problemlos dem Diktat der Regierung unterwerfen, aber genau das ist der Fall. Und das nicht, weil die Anstalten von der Polize besetzt wären oder so... sondern vor allem aufgrund der finanziellen Verstrickungen der Besitzer. Erschreckend.


Nigel Powers: "There are only two things I can't stand in this world. People who are intolerant of other people's cultures... and the Dutch!"