Rezi: "Rabengeflüster" von Heike Wolf, Anja Jäckle und Alex Wichert
Aurelian Bonareth hat das Glück nicht gerade gepachtet. Der al'anfanische Grande steht weit unten in der Rangfolge seiner Familie, die ungeliebte Verwandtschaft tanzt ihm auf der Nase herum und jetzt bekommt er auch den lang ersehnten Platz im Hohen Rat nicht. Er sinnt auf Rache ... und steht damit im Mittelpunkt eines Ränkespiels, wie es nur in der Stadt des Raben stattfinden kann.
"Rabengeflüster" spielt also in Al'Anfa, der "Perle (oder Pestbeule, wie weniger wohlwollende Zeitgenossen sagen) des Südens". Und so sind auch Intrigen, Verrat, Heimtücke, Lug und Trug die Mittel, mit denen die "Helden" des Romans ihre Interessen und Positionen vertreten. In einer Welt zwischen dekadentem Überfluss und bitterem Elend scheint allen jedes Mittel recht zu sein.
Neben Aurelian begleiten wir als Leser noch den Großexecutor Irschan Perval, Lucio, einen Fana und Anführer der Rebellen vom Visarberg, sowie Amato Paligan, den wir noch aus Alex Wicherts "Sand und Blut" kennen, den Patriachen Amir Honak höchstpersönlich und einem knappes Dutzend weiterer Personen durch die Geschichte.
Die Handlung springt geschickt zwischen den verschiedenen Personen und Orten hin und her, und verdichtet sich gegen Ende zu einem großen Showdown. Denn am letzten Tag der Rahja könnte etwas geschehen, dass das Antlitz der Stadt des Raben für immer verändert.
Leser, die sich in den Verwandtschaftsverhältnissen der alanfaschen Granden nicht auskennen, werden zu Beginn des Öfteren vorne im Personenverzeichnis nachschlagen müssen. Dies legt sich jedoch schnell, da die meisten Personen vielschichtig und überzeugend gezeichnet sind. Ein einfaches Gut/Böse-Schema gibt es nicht, gerade Aurelian und Irschan, die wir die meiste Zeit begleiten, sind gnadenlose Intriganten und verfolgen ihre Ziele auch ohne Rücksicht auf vermeintliche Freunde, Geliebte oder Angehörige. Doch neben ihrer Tücke und Boshaftigkeit kommt immer wieder ihre Zerrissenheit zu tragen; auch sie sind oft nur Opfer eines Spieles, das größer ist als alle Mitspieler zusammen.
Leider scheinen die Autorinnen ihre Liebe und Sorgfalt in erster Linie den Granden gewidmet zu haben. Die Person des Lucio bleibt im Vergleich zurück, er bleibt etwas eindimensional und klischeehaft, seine Mitstreiter Fassade. Dadurch verliert der Roman entgültig eine "typische" Heldenfigur, was aber der Geschichte an sich keinen Abbruch tut.
Wer sich noch an meinen Kommentar zu Alex Wicherts "Sand und Blut" erinnert, weiß, dass ich mich damals über das "unphantastische" des Romans "beklagt" habe. Nun, das kann ich auch dieses mal wieder tun: "Rabengeflüster" verzichtet weitgehend auf Zauberei und Schlachtengemälde. Ich erlebe Al'Anfa als eine Art aventurisches Rom mit einer Portion antikem Griechenland, einem kräftigen Schuss dekadentes Alt-Spanien etc. usw. ... aber wie ich schon damals sagte (oder sagen wollte): Kein Problem! Ich möchte nur darauf hinweisen, dass auch diese Geschichte vor jedem Hintergrund funktioniert hätte, der uns eine dekadente Oberschicht, verarmte und eingeschüchterte Massen (möglichst noch Sklaverei/Leibeigene) und eine dünne, unzufriedene Mittelschicht bietet (also vermutlich auch unter "Deutschland 2010" <img src="/ubbthreads/images/graemlins/memad.gif" alt="" /> ). Und das ist eben auch eine Stärke der Story: Sie funktioniert universell.
Auch verzichtet sie (wie schon gesagt) auf ein "typisches" Gut/Böse-Schema. Und damit fehlt auch ein "typischer" Held, ein Protagonist, ein Sam Gamdschie, aus dessen Augen ich die Geschichte miterleben und -leiden kann. Wer das nicht mag, sollte die Finger von dem Buch lassen.
Und wenn wir schon beim "Finger weg!" sind: Wer sich an Sex in Büchern stört und insbesondere homoerotische Schilderungen nicht mag, sollte einen weiten Bogen um das Buch machen. Die Autorinnen haben kaum eine Gelegenheit ausgelassen, an denen sich die Herren der Schöpfung nicht gegenseitig anknabbern.
Die etwa 360 Seiten sind stilistisch - im Vergleich zu vielen anderen DSA-Romanen - die reinste Freude. Weder unbeholfene Erklärungen, Stilblüten oder Überflüssigkeiten ("harte Steine" etc. - hab zumindest nichts entdeckt!) trüben die Lesefreude.
Für alle anderen, noch Mal kurz und bündig: "Rabengeflüster" hat eine vielschichtige, komplexe Handlung, toll gezeichnete Charaktere, grandiose Dialoge und ist damit - meiner bescheidenen Meinung nach - der beste Aventurien Roman seit langem.
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(Bei etwaigen Rächtscheibfehlern, falschen Word-Fehler-Korrekturen (wir/wie) und sonstigen Unklarheiten: Es gilt das, was ich meine und nicht das, was ich geschrieben hab <img src="/ubbthreads/images/graemlins/winkwink.gif" alt="" /> <img src="/ubbthreads/images/graemlins/winkwink.gif" alt="" /> )
Last edited by Schweige; 04/11/04 08:01 PM.