Wenn wir noch weiter differenzieren wollen, ist es doch meines Wissens nach sogar so, daß der türkische Präsident qua Verfassung (wie in Deutschland) überparteilich ist und ausdrücklich NICHT Wahlkampf betreiben darf. Erdogan hat sich darum natürlich schon vor der "normalen" Türkei-Wahl nicht geschert und das, soweit ich mich erinnere, sinngemäß so begründet: "Was schert mich die Verfassung, ich bin Erdogan!"

Und das sind dann halt so Sachen, bei denen ich mich frage: Warum stört das keinen? Warum macht niemand was dagegen? Klar, die Justiz, die sowas früher vermutlich verfolgt hätte, die hat er ja spätestens nach dem Putsch vollständig durch eigene Schergen ausgetauscht (bzw. die verbliebenen "neutralen" werden sich vermutlich nicht trauen, noch irgendwas zu machen). Aber in Rumänien haben wir gerade gesehen, wie ein vergleichsweise läppischer Gesetzentwurf, der Politiker-Korruption bis zu einer gewissen Grenze legalisiert hätte, Hunderttausende Bürger auf die Straße treibt, Tag für Tag und bei jedem noch so schlechten Wetter - bis das Gesetz eben tatsächlich wieder gekippt wurde! Eine Sternstunde der Demokratie, die meines Erachtens übrigens viel zu wenig gewürdigt wurde in der europäischen Öffentlichkeit. Warum ist das in der Türkei nicht möglich? Hat die brutale Niederschlagung der Gezi Park-Proteste der türkischen Zivilbevölkerung wirklich den letzten Mut geraubt? Haben sie einfach aufgegeben?

Davon abgesehen noch zwei Punkte, um die Situation etwas hoffnungsvoller zu zeichnen:
1. Ich glaube gar nicht, daß die absolute Anzahl der willfährigen Erdogan-Jünger in Europa sooo riesig ist. In irgendeiner Talkshow der vergangenen Tage hat ein AKP-Propagandist (unwidersprochen, glaube ich, aber ich habe nur kurz reingeschaut) behauptet, 70% der Deutschtürken stünden hinter Erdogan. So ist es aber ja nun nicht: Bei der letzten Wahl haben zwar mit 60% mehr als in der Türkei selbst die AKP gewählt - allerdings lag die Wahlbeteiligung deutlich unter 50%. Also sind wir schon mal nur noch bei ca. 25% der Deutschtürken, die tatsächlich so große Erdogan-Fans sind, daß sie sich die Mühe gemacht haben, zur Wahlkabine zu gehen. Und von den 25% werden sicher nicht alle unbelehrbare Fanatiker sein.
2. Ich glaube auch nicht, daß der Nationalismus in Europa immer weiter um sich greift - den gab es die ganze Zeit, nur hat die Flüchtlingskrise und der, sagen wir mal, verbesserungswürdige Umgang damit durch die Politiker die ganzen Vorurteile und Ressentiments wieder gesellschaftsfähig gemacht, stark befördert durch die (a)sozialen Medien. Gleichzeitig, und das ist das Gute an einer ziemlich miesen Sache, werden aber die Menschen generell wieder politisiert (Wahlbeteiligung in Holland: über 80%!) und gerade die Jungen, die diese offene Gesellschaft gewohnt sind und sie überwiegend nicht wieder hergeben wollen, engagieren sich spätestens seit dem Brexit - den sie durch ihre Apathie letztlich selbst verschuldet haben - stärker (bzw. überhaupt). Ja, letztlich ist es ein Richtungskampf zwischen einer weltoffenen, toleranten, friedlichen Gesellschaft und einer erzkonservativen, einengenden und nationalistischen Gesellschaft, aber die Entwicklungen der letzten Monate haben mich deutlich optimistischer gemacht, daß sich erstere durchsetzen wird. Und ich glaube, daß das Trump-Desaster (gestern haben sie angekündigt, die Gelder für "Essen auf Rädern" für Senioren zu kürzen und ebenfalls die für die Verpflegung von Schülern, Begründung: "Es gibt keinen Beleg, daß es zu besseren Leistungen führt" - das kommt sicher gut an bei den Wählern!) dabei eine große, abschreckende Rolle spielt. Ich wage sogar zu behaupten: Wenn Le Pen nicht französische Präsidentin wird, haben wir mit etwas Glück das Schlimmste überstanden - zumindest bis zum nächsten Terroranschlag ...

P.S.: Europe according to Erdogan hahaha