Originally Posted by Ralf
Wenn wir noch weiter differenzieren wollen, ist es doch meines Wissens nach sogar so, daß der türkische Präsident qua Verfassung (wie in Deutschland) überparteilich ist und ausdrücklich NICHT Wahlkampf betreiben darf.

Also das ist mir schon zu viel Differenzierung! Das sind ja fast schon Nazi-Methoden hier!!!


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Warum ist das in der Türkei nicht möglich? Hat die brutale Niederschlagung der Gezi Park-Proteste der türkischen Zivilbevölkerung wirklich den letzten Mut geraubt? Haben sie einfach aufgegeben?

Ich glaube, es hat viele Gründe... mit der wichtigste ist, daß viele im Land einfach davon überzeugt sind, daß Erdoğan eigentlich gar nix Falsches macht, und sie ihn deswegen unterstützen oder zumindest mal nicht dagegen sind.
Zwei der häufigsten Argumente, die ich bei Diskussionen zu hören bekomme, etwa sind:
1. (darauf bezogen, daß Erdoğan das halbe Land verkauft hat und dabei auch selbst offensichtlich kräftig mitverdient) "Ha, das machen doch alle Politiker..."
2. (darauf bezogen, daß man Erdoğan abwählen sollte) "Aber es gibt ja sonst keinen... wer soll den Job denn sonst machen?"

Die Erdoğanisierung im Land ist mittlerweile so dermaßen fortgeschritten, daß man kaum noch dagegen ankommt. Und damit meine ich nicht die Aushebelung der Demokratie durch die Regierung... sondern eben die Gewöhnung der Menschen daran. Gepaart mit der Tatsache, daß es nicht wenigen auch tatsächlich "besser" geht als noch vor 10-20 Jahren. Wobei das dann auch das nächste Standardargument ist: "Der Türkei geht es heute viel besser als in den 90ern oder gar davor!"
Das stimmt teilweise... aber es ist natürlich abenteuerlich anzunehmen, daß die Türkei sich nicht weiterentwickelt hätte, wenn nicht die AKP an die Macht gekommen wäre.

Kurz: Viele Türken sind einfach überzeugt von Erdoğan oder scheuen sich vor Alternativen - nicht wenige davon wurden nicht zuletzt durch den Putschversuch durch die Gülen-Anhänger in dieser Meinung bestärkt... dabei natürlich vergessend, daß Erdoğan und die AKP die Gülen-Bewegung erst so stark gemacht haben.
Insofern kann sich keine wie auch immer geartete kritische Masse bilden, die für positive Veränderungen sorgen könnte. Heutzutage sowieso nicht mehr, da die Exekutive unter AKP-Kontrolle steht und mit allem kurzen Prozess macht.

Auch die Medien kommen ihrer journalistischen Pflicht nicht nach - weil sie Angst vor Bestrafungen haben. Lächerlichstes Beispiel: Die Journalistin, die Erdoğan in der Putschnacht per Video-Telefonie live im TV zu den Türken sprechen ließ (und damit meines Erachtens einen großen Beitrag dazu geleistet hat, daß der Putsch nicht erfolgreich war), wurde damals umjubelt. Kürzlich hat sie es jedoch gewagt, einen Artikel über eine leichte Unzufriedenheit in den Reihen der Militärs zu schreiben... die Zeitung hat sich dafür offiziell entschuldigt, der Chefred. trat zurück... und es gibt wohl offensichtlich ein Ermittlungsverfahren gegen die Journalistin.

Eine kritische Berichterstattung findet nur sehr eingeschränkt statt... im TV sowieso so gut wie gar nicht, da schauen die Türken jeden Tag ihre Serien (die pro Folge netto 2 Stunden, brutto mit Werbung 3-4 Stunden gehen). In den Massenblättern erst recht nicht. Eben weil die Verantwortlichen entweder Angst um ihre Freiheit haben... oder weil sie der AKP in den Arsch kriechen wollen.

Hinzu kommt schon spätestens seit den Gezi-Unruhen, daß Erdoğan und co. die Schuld dafür bei Mächten von außen suchen. Diese Unart der Verantwortungslosigkeit ist den Türken schon immer eigen, aber in den letzten Jahren ist es einfach unerträglich geworden. An allem sind immer alle anderen schuld... die Amis, die Europäer, die Russen, die Israelis... niemals die Türken selbst. Während das z.B. in der Vergangenheit durchaus auch nachweisbar der Fall gewesen sein mag (wie beim Putsch in den 70ern etwa), ist die "Beweislage" aktuell meinem Empfinden nach höchstens dürftig. Dabei ist der Vertrag von Lausanne von 1923 nach dem Befreiungskrieg hier der springende Punkt... denn der läuft 2023 aus. Erstaunlicherweise gibt es sehr viele Theorien, was danach passieren könnte. Aber die Nationalisten und eben auch die regierenden Islamisten schüren die Angst davor, daß sich die Welt gegen die Türkei verschworen hat und ab 2023 dann alles daran setzen wird, das Land unter sich aufzuteilen. Daher auch die aktuellen Kriege mit Kurdenbeteiligung, das ist ja nur der Anfang vom Kurdenstaat, der dann spätestens 2023 Realität werden wird.
Zusammengefaßt: Den Türken wird Angst eingejagt, daß sich das Ausland gegen das Land verschworen hat... und daß ab 2023 alles den Bach runtergehen wird. Viele glauben diesen Unsinn natürlich auch, weil sie es nicht besser wissen... keine Ahnung haben, wie sie es besser wissen könnten... keine Muße haben, es besser zu wissen usw.

Alles in allem ist die politische und gesellschaftliche Gemengelage in der Türkei einfach so, daß Erdoğan und die AKP mit allem durchkommen können, wenn sie es nur geschickt genug anstellen. Und das tun sie einigermaßen gut.


Nigel Powers: "There are only two things I can't stand in this world. People who are intolerant of other people's cultures... and the Dutch!"