Leichte SPOILER-WARNUNG!

LITTLE CHILDREN:
Eine typische amerikanische Kleinstadt: Die unscheinbare junge Mutter Sarah (wie üblich großartig, wie üblich nackt, wie üblich für den OSCAR nominiert und wie üblich leer ausgegangen: Kate Winslet) fühlt sich nicht wirklich den anderen, ständig tratschenden Müttern auf dem Spielplatz zugehörig. Da ist es eigentlich nur logisch, daß sie sich eines Tages mit dem einzigen Vater, der mit seinem Sohn den Spielplatz besucht (und von den übrigen Müttern nur als "Ballkönig" tituliert, aber nie angesprochen oder auch nur gegrüßt wird), anfreundet. Denn genau wie Sarah unter dem Desinteresse ihres Mannes, leidet Brad (Patrick Wilson) - der bereits zweimal bei der Anwaltsprüfung durchgefallen ist - unter der Dominanz seiner erfolgreichen Frau (Jennifer Connelly).
Und so kommt es, wie es kommen muß: Brad und Sarah kommen sich immer näher und näher ...
Als ob das nicht schon für genügend Chaos und Getratsche in dieser Kleinstadt sorgen würde, gibt es aber auch noch Ronnie (ebenfalls für den OSCAR nominiert: Jackie Earle Haley), der zwei Jahre im Gefängnis saß, weil er sich vor einem Kind entblößt hatte. Nun ist er wieder zurück und die ganze Stadt gerät in Panik - nicht unerheblich geschürt von den überall aufgehängten "Fahndungsplakaten" des frustrieten ehemaligen Polizisten Larry (Noah Emmerich).

"Little Children" ist ein Episodenfilm in der Art von "American Beauty" oder "L.A. Crash". In den einzelnen Episoden wird gnadenlos (und von einem süffisanten Erzähler aus dem Off kommentiert) die nur scheinbar heile Welt der amerikanische Middle-class seziert. Eine besondere Rolle spielt dabei Ronnie: Erst nach etwa 45 Minuten taucht er erstmals selbst auf und das ausgerechnet in einem öffentlichen Schwimmbad. Die Reaktion der anderen Gäste auf sein Erscheinen wurde in einer anderen Rezension sehr treffend mit der Panik der Badegäste in "Der weiße Hai" verglichen. Regisseur Todd Field hat diese geradezu absurde Szene sicherlich bewußt so übertrieben inszeniert, denn die Botschaft seines Film ist deutlich: Alle halten Ronnie für ein Monster, dabei sind sie letztlich selbst nicht "besser" oder unschuldiger als er.
Natürlich ist es klug, daß Field Ronnie nicht zu einem überführten Kinderschänder gemacht hat. Denn wenngleich die Entblößung vor einem Kind natürlich einiges über die sexuellen Probleme derjenigen Person aussagt, so hat sie damit noch niemandem körperlich geschadet (und auch ein eventueller psychischer Schaden dürfte sich in Grenzen halten).
Ronnie ist somit ein Mensch, den man als Zuschauer nicht von vorneherein ablehnt. Das heißt aber keineswegs, daß seine Figur verharmlosend dargestellt würde. Nein, Ronnie ist eher unsympathisch, aber nicht abstoßend. Er weiß selbst, daß er ein Problem hat, daß er sexuelle Bedürfnisse hat, die er nicht haben darf - aber er kann nichts dagegen tun, er kann nur versuchen, diese Bedürfnisse in Zaum zu halten; das aber im steten Bewußtsein, daß ihm das womöglich irgendwann nicht mehr gelingen wird. Ronnie wird also als ein Mensch mit vielen Problemen gezeigt, aber als Mensch, der wirklich versucht, ein "guter Junge" (wie seine Mutter ihn immer nennt) zu sein. Und da ist es selbstverständlich alles andere als hilfreich, wenn sein Erscheinen überall für Panik und Anfeindungen sorgt, wenn das Haus seiner Mutter ständig mit Graffiti beschmiert wird und speziell der übermotivierte Ex-Cop Larry ihn regelmäßig mitten in der Nacht aus dem Schlaf hupt, um ihm zu zeigen, daß er ständig beobachtet wird.

Und dann sind da noch die anderen Episoden: Die Affäre von Sarah und Brad, das Verhalten ihrer jeweiligen Ehepartner, das diese Affäre geradezu heraufbeschwört, die persönlichen Probleme von Larry (der nicht ohne Grund ein EX-Cop ist ...), ja überhaupt das Unvermögen sämtlicher Figuren, ihre wahren Wünsche zu artikulieren oder gar auszuleben. Sie sind eben keine "Little Children" mehr. Stattdessen leben sie ihr Erwachsenen-Leben unglücklich vor sich hin und träumen nur von einem Ausbruch aus ihrem stetigen geistigen Dämmerzustand.
Geradezu brillant ist Field in diesem Zusammenhang eine Szene gelungen, in der die Frauen eines Buchclubs, zu dem auch Sarah erstmals mitgekommen ist, Flauberts "Madame Bovary" besprechen, damit aber letztlich nicht mehr über das Buch, sondern über ihre eigenen Existenzen sprechen. Meiner Meinung nach die stärkste Szene des gesamten Films!

Und es gibt noch einige weitere solcher brillanten Szenen. Aber dennoch zu wenige. Das Erzähltempo von "Little Children" ist langsam, die Inszenierung sperrig; die Charaktere sind zwar ausgesprochen lebensnah dargestellt, aber dennoch - oder gerade deshalb? - fehlen irgendwie die richtigen Identifikationsfiguren für das Publikum. "Little Children" ist nicht nur kein Mainstream-Film, er ist sogar geradezu sperrig.
Die Zugänglichkeit eines "L.A. Crash" mit der schmerzhaften Konsequenz eines "Little Children" - das wäre ein nahezu perfekter Film! So sind es IMHO nur zwei "normal gute" Filme, wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise.

Fazit: "Little Children" ist ein bewegendes, aber auch deprimierendes Episoden-Drama mit toller Besetzung, ein Film, dessen Realitätsnähe und intelligente Dialoge in mir zwar Bewunderung, aber keine Liebe für den Film wecken konnten. Anstrengendes, aber sehenswertes Kino mit einem Ende, über dessen Interpretation man lange diskutieren kann. 8 Punkte.

Last edited by Ralf; 01/05/07 11:40 AM.