Als Stone die Nachricht zu Ende gelesen hat, ist Lu ganz still geworden. Wie vorausschauend der Alte gewesen ist! Und welch ein trauriges Schicksal, einen verzweifelten, einsamen Gifttod aus eigener Hand zu sterben. Lu schüttelt sich vor Widerwillen und Mitleid. Seine ausgelassene Stimmung ist wie weggeblasen.

Für wen mag der Alte diesen Brief geschrieben haben? Er muss damit gerechnet haben, jemandem vor dem Bösen in diesem Tempel zu warnen - damals schon.

Ein kurzer Seitenblick auf Stone zeigt Lu, dass der Krieger immer noch tief in Gedanken versunken ist. Das Ende des Briefes scheint ihn am meisten aufgewühlt zu haben. Er hat das Zittern in Stones Stimme bei der Passage über die Hüter deutlich gehört.
Aber hatte er ihm nicht gerade einen Freibrief dazu gegeben, sich eigenständig umzusehen? Das muss ausgenutzt werden!

Leise, um Stone nicht zu stören, - oder sollte er ehrlicherweise sagen, auf sich aufmerksam zu machen - durchquert Lu den Raum. Mit einiger Mühe nimmt er eine der Öllaternen an sich und öffnet vorsichtig die nächstliegende Tür. Im Laternenlicht wird ein kleiner Raum sichtbar, der sehr spartanisch eingerichtet ist. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, viel Luxus schien den Schreibern nicht zugestanden worden zu sein.
Das Zimmer ist bis auf das Mobiliar vollständig leergeräumt, allein ein einzelner zerissener Stoffhaufen, der früher einmal ein Gewand gewesen sein mag, liegt auf dem Bett. Schweigend geht Lu einmal durch das Zimmer. Die Schreiber haben damals fast nichts zurück gelassen - nur ihre Bücher. Lu versteht nicht, weshalb sie sich gerade von diesen kostbaren Schätzen getrennt haben. Aber wer wusste schon, wie viele Bücher sie auch mitgenommen hatten. Und Lu konnte sich sehr deutlich daran erinnern, wie anstrengend der Weg durch das Gebirge für die Menschen gewesen war.

Der kleine Drache verlässt das Zimmer wieder und öffnet einige weitere Türen. Überall empfangen ihn leere Räume, in denen nur das zurückgelassen wurde, was es nicht wert war, über die Brecher getragen zu werden. Das Mobiliar, Kisten, zerbrochene Gefäße, Stoff- und Papierfetzen, Kerzen- und Kräuterreste.
Ein schwerer Geruch nach Zeit und Staub liegt in der Luft, der Lu auch schon in der Bibliothek aufgefallen war. Das Kratzen von Lus Krallen klingt hohl und einsam durch die Zimmer, alleine begleitet vom leisen Knistern der Flamme und dem gelegentlichen Knarren einer Tür.

Eigentlich hat Lu keine Lust mehr, sich von weiteren leeren Zimmern deprimieren zu lassen. Aber einerseits ist Stone noch immer mit sich selbst beschäftigt, zum anderen will er gründlich sein. So öffnet er weiter Tür um Tür.

Hinter einer Tür stutzt er. Zwar ist auch dieses Zimmer leer geräumt worden, jedoch liegt das gepackte Bündel noch auf dem Tisch. Dies muss die Wohnung des Toten sein.
Ein wenig scheu klettert er auf den Stuhl, um das Bündel untersuchen zu können. Vorsichtig öffnet er den Lederbeutel, der die Zeit gut überstanden zu haben scheint. Der Inhalt zerfällt jedoch unter seiner Berührung fast: Kleiderfetzen, Bücher, ein angelaufener Siegelring mit einer Feder, eine Glasplatte mit Metallring. Nichts, das Lu bei der Suche nach dem Siegel helfen könnte.

Als Lu gerade wieder vom Stuhl herunter springen will, hält er erschreckt inne. Seine Schwanzspitze leuchtet glühend rot! Hatte Glance nicht gesagt, er sei ein Artefakt-Spürdrache? Lu wirbelt herum.

"Stone! Stone! Mein Schwanz!", ruft er und eilt aufgeschreckt halb stolpernd, halb fliegend zurück in das »Wohnzimmer der Schreiber«.