Das Knacken und Reißen der Dornenranken ist kaum verklungen, als Lu auch schon mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden landet. Glücklicherweise ist dieser mit Laub und Moos gepolstert, so dass der kleine Unglücksdrache bei einer raschen Bestandsaufnahme nur einige Kratzer und Beulen registrieren muss, jedoch keine ernsthaften Verletzungen.
Noch etwas verdattert, aber neugierig schaut er sich um. Von oben schimmert das Mondlicht schwach durch den Beerenbusch und beleuchtet eine aus Ästen und Seilen grob zusammengeknotete Leiter, mit der ein etwas sanfterer Abstieg möglich gewesen wäre.
"Verflixt, ich dachte, so etwas passiert mir nur bei Keksen und Kaninchen", grummelt der kleine Drache vor sich hin und leckt sich Blut und Beerensaft von den Pfoten. "Ich sollte Waldbeeren auch auf die Erst-denken-dann-handeln-Liste setzten."
Lu bemerkt, dass er in einer kleinen Höhle gelandet ist. Die Bereiche außerhalb des schwachen Mondlichtkegels liegen jedoch in tiefer Dunkelheit, so dass er nicht sagen kann, wie weit diese in die Felsen hinein reicht. Einen kurzen Moment lang denkt er darüber nach, einfach wieder aus dem Schacht hinaus zu klettern, aber dann überwiegt die Abenteuerlust.
Mit nach vorne gestreckten Pfoten - erst die Pfoten, dann die Nase hatte er in schmerzhaften Lektionen gelernt - geht er langsam aus dem Lichtkegel hinaus, in der Hoffnung, auf eine Wand zu stoßen, an der er sich entlang tasten kann. Und wirklich, schon nach wenigen Schritten erfühlt er plötzlich eine hölzerne Konstruktion. Wissbegierig tastet er über die Balken und Platten, als seine Pfote gegen einen Gegenstand stößt und ein helles Klirren ertönt.
"Ein Regal! Eine Flasche?", wundert sich Lu und zieht vorsichtig eine der oberhalb seiner Kopfhöhe gelagerten Flaschen aus dem Regal heraus. Die benachtbarten Behältnisse geraten dabei ebenfalls in Bewegung und für einen kurzen Moment befürchtet der kleine Drache, sie würden gleich aus dem Regal rollen und sich über ihn ergießen. Glücklicherweise stehen einem geflügelten Wesen jedoch vier Gliedmaßen zum Stoppen des sich anbahnenden Chaos zur Verfügung, so dass Lu sich kurz nach einer geradezu artistischen Einlage mit zwei Flaschen zurück in den Lichtkegel begeben kann, um diese genauer zu betrachten.
Glücklich über den Leseunterricht, den ihm Przyjaciel Stone während ihrer Rückreise aus den Brechern gewährt hatte, setzt er sich gemütlich nieder.
"Rrrr - Uhhhh - Mmmm", entziffert er auf dem ersten Ettikett recht schnell.
Ruhm? Gab es den jetzt schon in Flaschen? Er hatte immer gedacht, ein Held müsse schwer dafür arbeiten. Aber vielleicht war dies ja ebenso eine Fälschung wie der Liebestrank, den seine Schwester sich einmal von einem Kräuterdrachen teuer erkauft hatte. Etwas enttäuscht stellt er die Flasche neben sich auf den Boden und wendet er sich dem zweiten, deutlich kleineren, ja geradezu winzigen Exemplar zu. Mühsam dreht und wendet er es im Mondlicht, um die Buchstaben erkennen zu können. Mit einer Kralle verfolgt er stockend die Zeichenfolge. So lange Wörter sind einfach zu gemein.
"Sss - Khhh - Hhh - Llll - Aaa - Nnn - Ggg - Eee" stottert der kleine Drache mehrfach ergebnislos. Nein, das ist noch zu schwierig für ihn. Aber er beschließt die Flasche mitzunehmen und sich die Buchstaben von Przyjaciel Stone erklären zu lassen.
Die Gefährten! Erschreckt und reumütig überlegt Lu, wie viel Zeit er wohl inzwischen vertrödelt haben mochte. Er sollte jetzt wirklich schleunigst den Unterschlupf aufsuchen, bevor sich seine Begleiter Sorgen machten!
Schnell springt er auf und stößt dabei die neben ihm abgestellte Flasche mit einem lauten Poltern um. Vor Überraschung wie erstarrt beobachtet Lu, wie die Flasche mit einem leisen Klirren und sich stetig beschleunigend aus dem Lichtkreis heraus rollt. Auch nachdem die Flasche seinem Blick entschwunden ist, hält das Klirren kurze Zeit weiter an, dann folgt ein Augenblick völliger Stille.
...
Als Lu gerade den Blick abwenden will, schlägt die Flasche mit dröhnendem Geschepper auf und zerspringt in tausend kleine Teilchen.
Erschreckt zuckt der kleine Drache zusammen und starrt in die Dunkelheit - Dunkelheit? Ein schwacher Lichtschimmer scheint von dort hinten zu kommen und ein rasches Stampfen.
Noch während Lu überlegt, wie eine einzige zerschlagene Flasche dies verursacht haben könnte, gesellen sich neue Geräusche hinzu. Eine unangenehm tiefe Stimme dröhnt wütend durch den Gang:
"Beim rattenfressenden Piratenhenker! Threepwood, wenn ich dich schon wieda anne Rumvorräten finde, dann bind ich dich mit'm fetten Stück Speck auf'm Bauch nackt inne Scheißekanäle an und freu mich am jeden Quieken von dir! Verdammter Sohn vonna saufenden Hure!"