Ein kühler Wind kommt auf und Liandra zieht ihren dunkelblauen Wollumhang enger um den Körper. Jetzt, wo die Sonne untergegangen ist, wird es ziemlich schnell kalt, und auch langsam Zeit, sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Ihr Magen macht sie mit einem lauten Knurren darauf aufmerksam, dass sie wohl auch etwas essen sollte, denn außer einem alten Stück Brot und einigen Früchten, die sie den Obsthändlern stibitzt hatte, als diese gerade durch ehrliche Kundschaft abgelenkt waren, hat sie heute noch nichts gegessen. Aber Terana ist eine ziemlich große Stadt, und irgendwo gibt es bestimmt ein Gasthaus, was zu günstigen Preisen ein Abendessen und Zimmer anbietet.
Liandras Füße schmerzen bereits vom vielen Umherwandern, und sie lehnt sich an eine Häuserwand, um kurz auszuruhen und ihre langen Haare wieder zu einem ordentlichen Zopf zu binden, denn mittlerweile versperren die dunkelroten Strähnen ihr die Sicht. Danach fühlt sie in ihrer Umhangtasche nach dem kleinen Lederbeutel, den ein Besucher des Marktes ziemlich unachtsam auf einem Verkaufstisch abgelegt hatte. Er enthält nicht viele Münzen, aber für ein bis zwei Tage dürfte es wohl ausreichen.
'Wenn jeder so schlecht auf sein Geld aufpassen würde, wäre ich schon längst steinreich', denkt Liandra mit einem leichten Kopfschütteln und lenkt ihre Schritte in Richtung einer Taverne, die von außen einen viel versprechenden Eindruck macht. Doch nach einem Blick in das Innere des Schankraumes und auf die Preistafel seufzt sie auf. Wenn sie hier etwas zu Abend essen und ein Zimmer nehmen würde, bliebe ihr nichts mehr übrig. Vielleicht wäre es besser, jemanden aus der Stadt zu fragen, wo es hier für kleines Geld ein vernünftiges Gasthaus gibt.
Liandra läuft ein Stück die Straße hinunter und entdeckt eine schon ältere Händlerin, die ihren Stand etwas außerhalb vom Markt aufgebaut hat und gerade ihre Waren zusammenpackt.
"Entschuldigt bitte", spricht sie die Frau freundlich an, doch die antwortet ziemlich schroff: "Was willst du?"
"Ich wüsste gern, ob es in dieser Stadt ein günstiges Gasthaus gibt", sagt Liandra, immer noch mit freundlicher Stimme.
Sie erntet einen verächtlichen Blick von der Händlerin, die mit einer abweisenden Handbewegung erwidert: "Weiß ich nicht. Und wenn du nichts kaufen willst, dann verschwinde und stehle nicht meine Zeit."
"Vielen Dank für die Auskunft", kann Liandra sich nicht verkneifen zu sagen, ehe sie sich umdreht und weiter die Straße entlanggeht, auf der Suche nach Passanten, die vielleicht ein wenig netter als das alte Weib von eben sind. Eine belustigende Idee kommt ihr in den Sinn, und sie muss kichern, als sie darüber nachdenkt.
'Ich stehle ihre Zeit, hat sie gesagt. Schade nur, dass ich es nicht wirklich kann. Einige Leute würden bestimmt eine Menge Geld bezahlen, nur um mehr Zeit zu haben.'
Schwere Schritte holen sie wieder in die Realität zurück, und Liandra erblickt eine der Stadtwachen, die wohl ihren abendlichen Rundgang durch Straßen macht.
'Wenn der sich hier nicht auskennt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter'
"Entschuldigt bitte, könntet Ihr mir wohl helfen?", fragt sie den Mann höflich, der etwas gelangweilt antwortet: "Was gibt es denn?"
Als er Liandra jedoch genauer ansieht, nimmt sein Gesicht sofort einen viel freundlicheren Ausdruck an. Dem Anschein nach ist er nicht älter als sie selbst, vielleicht sogar etwas jünger und sicherlich noch nicht allzu lange bei der Stadtwache.
"Ich meine, wie kann ich Euch denn behilflich sein, junge Frau?", fügt er mit einem breiten Lächeln hinzu, und Liandra sieht, dass ihm die Vorderzähne fehlen; vielleicht bei einem Kampf ausgeschlagen. Sie muss sich auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen, und stellt ihm dieselbe Frage, wie der alten Händlerin.
"Aber es sollte natürlich auch keine Spelunke sein, in der sich nur Gesindel herumtreibt", schließt sie, ebenfalls lächelnd, und streicht sich eine Strähne ihres dunkelroten Haares aus dem Gesicht. Die Geste verfehlt nicht ihre Wirkung, denn der Wachmann nennt ihr ohne lang zu überlegen drei Gasthäuser und beschreibt ihr den genauen Weg dorthin.
"Übrigens, nach Dienstschluss gehe ich meistens in den 'Goldenen Krug'", erklärt er noch und Liandra erwidert mit einem Augenzwinkern: "Gut zu wissen, ich danke Euch jedenfalls sehr für die Hilfe. Aber nun will ich Euch nicht länger belästigen, ich halte Euch schon lange genug von Eurer Arbeit ab."
Der Wachmann antworte mit einer kleinen Verbeugung und Liandra dreht sich schnell um, damit er ihr Grinsen nicht sieht, und geht ein Stück die Straße entlang in Richtung 'Goldener Krug', ehe sie in einer Seitengasse verschwindet und sich auf den Weg in eine der anderen Tavernen macht.
Dort angekommen, atmet sie erleichtert auf. Endlich etwas ordentliches zu Essen und danach ein warmes Bett für die Nacht, mehr will sie im Moment nicht.
Der Schankraum ist nur zur Hälfte gefüllt, so dass Liandra noch einen Platz in der Ecke nahe der Theke bekommt, und kaum hat sie sich hingesetzt, als auch schon gleich eine sehr junge Bedienung an ihren Tisch kommt und freundlich nach ihren Wünschen fragt.
"Ein gutes Abendessen hätte ich gern, gibt es etwas, was Ihr mir besonders empfehlen könntet?"
"Nehmt den Eintopf, er ist der Beste in der ganzen Stadt, die Frau des Wirtes bereitet ihn nach einem besonderen Rezept zu", erklärt das Schankmädchen, und fügt mit leuchtenden Augen hinzu: "Wenn ich könnte, würde ich mich nur noch davon ernähren."
"Gut, dann bringt mir etwas davon", antwortet Liandra mit einem Lächeln und eifrig nickend läuft das Mädchen in die Küche, um kurze Zeit später mit einer ziemlich großen, bis zum Rand gefüllten Schüssel wiederzukommen.
"Ich bin sicher, es wird Euch schmecken", strahlt das Mädchen, als es die Schüssel vor Liandra auf den Tisch stellt und gleich wieder davonläuft, um sich um die nächsten Gäste zu kümmern.
Vorsichtig probiert Liandra von dem so angepriesenen Eintopf und stellt fest, dass das Mädchen nicht übertrieben hat; so etwas Köstliches hat sie schon lange nicht mehr vorgesetzt bekommen.
'Wenn ich das aufgegessen habe, brauche ich bestimmt drei Tage nichts mehr', denkt sie bei sich und freut sich darauf, gleich in ein warmes Bett zu fallen und schlafen zu können.