„Manch eine Nacht schon legte sich finster und schwer über Rechem wie ein Leichentuch.“, erklärt Nimue mit belegter Stimme. Die Augen der Professorin für Alchemie sind gerötet, und das nicht nur vom Rauch. Drei ihrer Schüler sind nicht zurückgekehrt. Hat sie die jungen Leute mit der Anweisung, die Brände in der Stadt löschen zu gehen, in den Tod geschickt? Sie wischt die nagende Frage aus ihrem Bewusstsein fort, denn sie ist fest davon überzeugt, dass es keinen anderen Weg gab, dass sie das Richtige getan hat. Wenn die Magier gezaudert hätten, würde die Stadt jetzt vielleicht nicht mehr existieren.
„Diese Nacht ist anders.“, fährt die alte Frau fort. Einige der vor ihr versammelten Schüler blicken zum nächtlichen Rechem hinüber. Ungewöhnlich viele Lichter sind zu sehen, aber es ist nicht mehr der flackernde Schein von Flammen, die sich in die Häuser der Stadt fressen. Die Brände sind gelöscht. Es ist der tanzende Schein von Laternen, mit denen trotz der späten Stunde noch viele Menschen unterwegs sein müssen. Menschen, die Angehörige suchen oder ihr Hab und Gut aus den verkohlten Ruinen bergen, vielleicht kümmern sich auch noch einige um Verwundete auf den Straßen, oder sie holen sich von den Toten, was sie finden können ...
Nimue sammelt sich, und die Inbrunst der Überzeugung erfüllt ihre Worte, als sie weiterspricht: „In dieser Nacht wurde Rechem neu geboren. Sicherlich – die Mutter, das alte Rechem, ist bei der Geburt gestorben, und das ist ein trauriger, schwerer Verlust. Aber ihr, ihr alle, habt mitgeholfen, das Kind, das neue Rechem, zu retten, und darauf könnt ihr stolz sein. Das Kind wird viel von seiner Mutter haben, doch in vieler Hinsicht wird es auch anders sein als sie. Ihr, die Geburtshelfer, sollt das Kind nun nähren, aufziehen und lehren. Die Zeit, da die Magier sich neben die Mutter legten wie neben eine alte Geliebte, die man keines Blickes mehr würdigt, ist vorbei. Die Magier haben das Recht und die Pflicht, sich um das Kind zu kümmern. Sie dürfen es nicht dem Tempel überlassen und nicht dem Magistrat. Dieses Kind ist kostbar! Wenn die Magier sich von ihm abwenden, wird es zugrunde gehen. Und die Krankheit, die es in den Tod führt, wird auch die Magier befallen. Lasst das nicht zu!“
Ein Seufzen entringt sich der Kehle der alten Alchemistin. Sie sieht ihren Schülern an, dass diese sich nur mühsam auf den Beinen halten, und auch ihr selbst setzen Müdigkeit und Erschöpfung schwer zu. Vielleicht ist es besser, ihnen diesen Vortrag erst morgen zu halten? Nach den Ereignissen dieses Tages dürfte die Aufnahmefähigkeit der jungen Leute ohnehin sehr begrenzt sein. Aber sie möchte ihnen so gern noch etwas mit auf den Weg geben, ihnen begreiflich machen, dass sie heute auf dem richtigen Weg waren, einem Weg, den sie nicht mehr verlassen dürfen ... mit dem alten Zaudern und der Gleichgültigkeit der Magier muss endlich Schluss sein! Nimue sucht nach Worten, die diesem Wendepunkt in der Geschichte der Akademie angemessen wären.
„Danke!“, sagt sie nach einer kurzen Pause mit warmer Stimme – ein Wort, das die Ausbilder ihren Schülern gegenüber höchst selten in den Mund nehmen. So selten, dass ein paar der jungen Männer und Frauen die müden Augen verwundert aufreißen, um sie anzusehen.
„Danke im Namen Rechems! Geht jetzt und holt euren wohlverdienten Schlaf nach.“, fügt die Professorin mit einem Lächeln an. Dann dreht sie sich um und macht sich auf den Weg in ihre eigenen Gemächer.
Verwirrt zieht die Frau, die alle nur „das Fischweib“ nennen, durch die Straßen Rechems, ohne genau zu wissen, wonach sie eigentlich sucht. Sie hat das Gefühl, dass das, was heute geschehen ist, nicht ganz in ihren Kopf passen will, ohne starke Schmerzen zu verursachen. Beim Zug der Menge zum Hafen schien alles noch so eindeutig und klar. Ein Anflug des Gefühls, das sie erfüllte, steigt in ihr auf ... der berechtigte Zorn, die Gewissheit, die Spitzohren für ihre Verbrechen bestrafen zu müssen. Aber dann verschwamm alles, geriet durcheinander. Die befremdliche Elfenmusik, die lauschend dastehende Menge. Das Gedränge, die Reden, der Wechsel zwischen Staunen und Wut ... und Angst. Die fremden Schiffe, die Kämpfe. Die Frau erinnert sich zitternd an das lange Verstecken im Keller, an die Furcht, von Piraten gefunden und getötet zu werden.
„Seid uns gnädig, Ihr Götter!“, murmelt sie erneut, und „Undar schütze Rechem!“
Noch immer will sich bei ihr nicht die erleichternde Gewissheit einstellen, dass es vorbei ist, dass keine Gefahr mehr droht. Fast ohne ihr Zutun bewegen sich ihre Beine weiter, stolpern über einen auf der Straße liegenden, reglosen Leib, wanken weiter. Das Fischweib denkt an den Hagel zurück, an die großen Körner, die zischend in die Flammen einschlugen. Eine Strafe der Götter oder eine Rettung durch die Götter? Vertraute Gesichter erschienen im Rauch des Kellers und brachten die Hustende nach draußen, aber die Namen zu diesen Gesichtern waren seltsam weit weg. Andere Gesichter drängten sich dazwischen, das einer jungen, gut aussehenden Frau von eigenartiger Präsenz, einer Frau die gut zuhören konnte, und das eines attraktiven jungen Mannes im Rechemer Hafenbecken.
„Undar schütze Rechem!“, keucht das Fischweib und drückt den Korb, den sie, ohne es zu merken, noch immer am Arm trägt, fester an sich.
Warum ist alles so verworren und ungeordnet? Warum sagt nicht jemand, wie das alles zusammenpasst? Ein Priester, jemand vom Magistrat, irgendjemand. Die Dinge schienen so klar in Rechem, und jetzt ist alles so vermischt – Wut und Freude und Todesangst. Erschöpft hält sich die Frau an einer Hauswand fest und genießt es, wenigstens physisch ein wenig Halt zu finden. Die Bilder des Tages schießen ihr so schnell kreisend durch den Kopf, dass ihr schwindlig wird. Stöhnend lehnt sie sich mit dem Rücken an die Wand. Ihre müden Beine geben unter ihr nach, und sie rutscht langsam dem Boden entgegen. „Undar schütze ...“, flüstert sie, als sie in den unruhigen Schlaf der Erschöpfung hinübergleitet.
Der stämmige Korporal der Stadtwache kann sich gerade noch einen derben Fluch verkneifen. Warum muss das alles ihm passieren? Warum kann Dranner nicht da sein und die Sache auf seine wortgewandte Weise regeln? Er wirft dem Mann, den seine Leute als Plünderer aufgegriffen und zu ihm gebracht haben, einen finsteren Blick zu. Was würde Dranner jetzt machen? Plünderei darf auf keinen Fall hingenommen werden!
„Ich könnte dich auf der Stelle hinrichten lassen, du Hund!“, knurrt der Korporal, „Vielleicht sollte ich das ... dann hätten wir keine Scherereien mehr mit dir.“
„I-ich ... b-bitte nicht, Herr.“, stammelt der bebende Mann, der von zwei Soldaten festgehalten wird. Sein Gesicht ist rußverschmiert, seine Kleidung zerrissen und schmutzig. Im Beutel, den der Soldat links von ihm in der Hand hält, glänzen ein paar Münzen und einfache Schmuckstücke aus Silber.
Angewidert verzieht der Korporal das Gesicht. Bei all den Toten, die schon in der Stadt herumliegen, was spielt da ein Leben mehr oder weniger überhaupt für eine Rolle? Janus tot, Frollo tot, Dranner tot. Wer weiß, wie viele Verluste die Stadtwache zu beklagen hat? Heute sind weit bessere Menschen gestorben als der miese kleine Dreckskerl dort – was hat er für ein Recht zu leben, wenn so viele Helden tot sind?
„Was sollen wir mit ihm machen, Herr?“, fragt einer der Soldaten. Der Korporal versucht trotz all der Aufregungen, Mühen und Gefahren des langen Tages klaren Kopf zu behalten. Was würde Dranner jetzt tun? Er hat nicht auf die Menge schießen lassen, er ist ihr unbewaffnet gegenübergetreten! Das scheint schon eine Ewigkeit her zu sein ...
„Wie kommst du dazu, dir anderer Leute Sachen einfach zu nehmen, hä?“, fährt er den Plünderer an. Der Mann zuckt zusammen. „Sie sind doch tot, Herr, s-sie brauchen die Sachen doch nicht mehr.“, stammelt er, „A-aber wir brauchen sie. Meine Frau ist verletzt worden, und ich kann die Heiler nicht bezahlen. Wer soll sich um unsere vier Kinder kümmern, wenn meine Elisa es nicht kann und ich am Hafen arbeiten muss? Herr, wer weiß, ob ich morgen überhaupt noch Arbeit finde? Wir alle brauchen zu essen in dieser unsicheren Zeit ...“
„Die Zeit ist nicht mehr unsicher!“, gibt der Korporal ärgerlich zurück, ohne selbst so richtig davon überzeugt zu sein. „Der Angriff ist zurückgeschlagen, die Piraten sind tot. Die Stadtwache hat die Lage unter Kontrolle. Morgen wird alles wieder seinen geregelten Gang nehmen. Der Magistrat wird dafür sorgen, dass niemand verhungert. Und die Stadtwache sorgt wie immer dafür, dass alle sich an Recht und Gesetz halten!“
Der Plünderer blickt verunsichert zu Boden. „Herr ... Herr, ich wusste nicht, dass alles wieder so ... so normal ist. Ich dachte, es brechen schreckliche Zeiten herein. Ich ... ich wollte doch nur sicher sein, dass meine Familie genug hat zum Überleben.“
Die Soldaten, die den Mann festhalten, sehen den Korporal abwartend an. Jetzt muss er wohl eine Entscheidung treffen. „Lasst ... lasst ihn gehen.“, sagt er zögerlich. Die Soldaten machen überraschte Gesichter. „Danke ... danke, Herr!“, wispert der Plünderer und verbeugt sich tief.
„Es ist genug Blut vergossen worden heute.“, wendet der Korporal sich erklärend an seine Männer, um dann in strengerem Ton, den Blick auf den Plünderer geheftet, fortzufahren: „Du wirst derlei in Zukunft unterlassen. Du wirst das Gesetz achten, das unverändert gilt. Du weißt jetzt, dass keine unsichere Zeit anbricht. Das wirst du allen sagen. Und morgen gehst du wie immer zur Arbeit. Verstanden?“
„Natürlich, Herr. Natürlich!“, stößt der Mann hastig hervor, als die Soldaten ihn loslassen, „Es war nur eine bedauerliche Fehleinschätzung der Lage. Es wird nie wieder vorkommen. Ich danke Euch für Eure Güte und Weisheit.“
Mit diesen Worten läuft der Plünderer in die Nacht davon. Der Korporal fingert an den Enden seines Schnurrbarts herum, der am Nachmittag noch sorgfältig gezwirbelt war. War das die richtige Entscheidung? Hätte Dranner genauso gehandelt? Sie werden in Zukunft auf seine Führung verzichten und auf ihre eigenen Entscheidungen vertrauen müssen ...
Aber dem Korporal bleibt nicht viel Zeit, um seinen Gedanken nachzuhängen. Zwischen den Wächtern, die Trümmer und Gefallene wegräumen, kommen zwei Gestalten näher – einer seiner Leute und ein junger Mann, der ebenfalls die Uniform der Stadtwache trägt. Er ist jedoch von oben bis unten mit Blut besudelt und schreit immer wieder „Sieg!“. Auf seiner Uniform prangen die Abzeichen eines Feldwebels.
Den Korporal überläuft ein eisiger Schauer. Er erkennt den Mann. Als vorhin ein Wächter zurückkam, der den Familien der Wachsoldaten Nachricht überbracht und Kunde von ihnen erhalten hatte, berichtete er auch, dass das einzige Kind des jungen Feldwebels zu Tode gekommen war.
Betreten salutiert der Korporal, als die beiden Männer vor ihm stehen. „Sieg, Korporal! Wir haben gesiegt!“, grölt der Feldwebel. „Ich weiß, Herr.“, antwortet der Korporal leise. „Na, dann freut Euch gefälligst, Mann. Sieg!“, fährt der Feldwebel fort. Er blickt zu einem toten Piraten hinüber und scheint den Korporal zu vergessen. Mit drei schnellen Schritten ist er bei dem Toten, zieht seinen Dolch, packt ihn mit beiden Händen und stößt ihn in die Brust des Leichnams. Ungläubig sieht der Korporal mit an, wie sein Vorgesetzter den Körper des Toten aufschlitzt, mit beiden Händen in ihn hineingreift und die Innereien herausreißt.
„Wir haben gewonnen, du dreckiger Schweinehund!“, schreit der Feldwebel den Toten an. „Sieg! Sieg! Sieg!“
„Er ist übergeschnappt, Herr!“, flüstert der Soldat, der den Feldwebel begleitet hat, dem Korporal zu. „Was soll ich jetzt mit ihm machen?“
Der Korporal senkt den Kopf. „Er ist nicht übergeschnappt.“, entgegnet er leise, „Er ist nur ... aufgewühlt. Das wird sich wieder geben ... vielleicht. Begleite ihn und pass auf ihn auf. Wenn er ruhiger wird, versuch ihn zur Wache zu bringen und zu waschen. Wir alle müssen jetzt besonders gut aufeinander Acht geben.“
„A-aber ...“, protestiert der Soldat zaghaft, „Aber er ist irre. Was, wenn er noch viel schlimmere Dinge anstellt? Ich kann ihn doch nicht einfach gewähren lassen.“
„Das sollst du auch nicht.“, erwidert der Korporal. „Bring ihn ruhig, aber bestimmt davon ab. Wir alle müssen immer noch unseren Wert beweisen. Die Zeit der Prüfungen ist nicht vorbei. Begleite den Feldwebel und kümmere dich um ihn. Wir alle haben unsere Pflicht zu erfüllen, auch wenn die Götter es uns nicht leicht machen.“
Nein, sie machen es uns wahrlich nicht leicht., denkt der Korporal bei sich. Sie verlangen sehr viel von uns. Sie verlangen mehr, als mancher zu geben vermag. Aber sie haben uns am Leben gelassen. Ich werde ihnen morgen ein großes – nein, ein gewaltiges Opfer bringen.