Ich war schon näher am Finale, als ich dachte. Gestern abend war ich deshalb bereits durch. Ich werde jetzt einfach mal eine Positiv- und eine Negativ-Liste für "Dragon Age 2" erstellen:

Pluspunkte:

- wie immer bei Bioware die Handlung, die mich diesmal sogar besonders beeindruckt. Möglicherweise ist sie emotional weniger mitreißend als bei anderen Bioware-Spielen, aber dafür IMHO besonders authentisch und anspruchsvoll. Denn der erbitterte Konflikt zwischen Magiern und Templern, der in "Origins" aufgrund des gemeinsamen Feindes im Grunde nur angedeutet wurde, entbrennt in diesem Spin-Off, das zeitlich parallel zu "Origins" beginnt, aber erst etwa zehn Jahre später endet, voll. Und der arme Spieler steht natürlich zwischen den Fronten, ebenso wie einige weitere Fraktionen (die Stadtwache, die Qunari). Die Art und Weise, wie Bioware hier auf allen Seiten (inklusive der Party-Mitglieder!) mit (dunklen) Grautönen arbeitet, um den Glaubensstreit zwischen diesen beiden Fraktionen darzustellen, kann mich jedenfalls voll und ganz überzeugen und sogar begeistern. Auch der aufgrund des langen Anhaltens des äußerst brüchigen Quasi-Waffenstillstands zwischen Magiern und Templern zunehmende Fanatismus auf beiden Seiten ist äußerst eindrucksvoll herausgearbeitet, die Motivation der handelnden Figuren wirkt so gut wie immer glaubwürdig und nachvollziehbar - und die Parallelen zu unserer Welt, z.B. dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, sind natürlich unübersehbar. Das wird sicher nicht jedem gefallen, denn viele spielen solche Spiele ja gerade deshalb, um nicht ständig an die oft genug deprimierende Realität erinnert zu werden. Aber wer damit kein Problem hat, darf sich auf einen Storyverlauf einstellen, der sicher jeden Spieler das eine oder andere Mal zum Schlucken bringen wird ...

- Eng mit der Handlung zusammen hängen natürlich immer die Charaktere und auch hier leistet Bioware die gewohnte tolle Arbeit. Für viele ist vermutlich erstmal wichtig, daß die Spielerfigur diesmal auch eine Stimme spendiert bekommen hat - mich hat das im ersten Teil nicht gestört, aber ich weiß, daß es darüber etliche Beschwerden gab. Die anderen Partymitglieder sind wieder ausgesprochen vielseitig ausgefallen (von Ex-Sklaven über die leichtlebige Piratin bis hin zur Elfen-Blutmagierin mit unschuldigem Dackelblick), dazu sehr eigenständig (es kommt beispielsweise immer wieder mal vor, daß einzelne Figuren bei bestimmten Missionen einfach nicht mitmachen - aber das ist noch harmlos im Vergleich zu einigen Aktionen im späteren Spielverlauf ...) und die Dialoge schwanken zwischen unterhaltsam, (relativ) tiefsinnig und zum Brüllen komisch (v.a. die zwischen Isabela und Aveline). Alles in allem wieder eindeutig die Note 1.

- Die Verzahnung mit "Origins" und "Awakening": Zwar bin ich der Meinung, daß in den ersten beiden der drei Akte des Spiels die Verbindungen zu den Vorgängern etwas zu dezent ausfallen, im dritten Akt dafür etwas zu stark (wobei das auch von den Entscheidungen abhängt, die man in "Origins" und/oder "Awakening" getroffen hat), dennoch sind sie eindeutig ein weiterer Pluspunkt. Das fängt mit einem (beziehungsweise zwei, ohne spoilern zu wollen ...) Charakter aus "Awakening" an, der auch in "Dragon Age 2" Mitglied der Gruppe werden kann, zudem kennt man Isabela bereits (mehr oder weniger) flüchtig aus der "Perle" in "Origins". Zudem gibt es einige "Gastauftritte" der früheren Gruppenmitglieder (sowie einiger NPCs), dazu natürlich innerhalb der Spielwelt jede Menge Anspielungen z.B. auf den "Hero of Ferelden" und zusätzlich auch noch ein paar gelungene Insider- (bezüglich des veränderten Aussehens mancher Figuren oder sogar ganzer Völker - Stichwort Qunari) bzw. Running Gags (Sandal). Kurzum: Man fühlt sich stets irgendwie zuhause. smile

- Das veränderte, deutlich schnellere Kampfsystem geht sehr flüssig von der Hand und macht nach einer gewissen Eingewöhnungszeit auch erstaunlich viel Laune. Allerdings gibt es zum Kampfsystem auch Negatives zu berichten (s.u.).

- Die Vertonung ist gewohnt gut, auch wenn diesmal kaum bekannte Namen unter den Sprechern zu finden sind (gleich aufgefallen ist mir aber Eve Myles alias Gwen aus "Torchwood", die die oben erwähnte niedliche Blutmagierin Merrill spricht). Die Musik gefällt ebenfalls.

- Die Grafik mag zwar leicht veraltet wirken (zumindest wenn man wie ich kein Windows 7 hat und damit nicht auf die neuesten DirectX-Versionen zurückgreifen kann), der Stil gefällt mir aber gut und das ist mir deutlich wichtiger.

- Interface/Inventar: Der Bedienkomfort ist deutlich gestiegen, beispielsweise werden nun direkt bei den Eigenschaftswerten auch die davon abgeleiteten Werte (z.B. Gesundheit, Ausdauer, Magieresistenz) angezeigt, sodaß man beim Stufenanstieg sofort weiß, wie sich die Aufstiegsentscheidungen konkret auswirken. Auch das Inventar ist wieder schön übersichtlich, zusätzlich gibt es eine Kategorie für Gegenstände, mit denen man nichts anfangen kann außer sie zu verkaufen (was aber dafür den Nachteil hat, daß man die Dinger überhaupt nicht mehr beachtet - zumal die schönen Item-Beschreibungen der Vorgänger fehlen, die dort selbst bei den unnützesten Gegenständen oft noch für einen Lacher sorgten). Zudem wird nun jeder ausrüstbare Gegenstand mit einer Wertung von null bis fünf Sternen versehen, und zwar für jedes einzelne Gruppenmitglied. Das ist schön übersichtlich und oft wirklich hilfreich.
Die Talententwicklung hat sich nicht großartig verändert und funktioniert somit weiterhin einwandfrei.

- Das Dialogsystem wurde deutlich verändert, es ist jetzt so wie bei "Mass Effect 2", bloß besser. Im Klartext: Wie bei ME2 werden keine ganzen Antwortmöglichkeiten mehr angezeigt, sondern nur Schlagworte, aus denen man auswählen kann. Da die bei ME2 öfters mißverständlich waren, konnte man relativ leicht etwas ganz anderes sagen als man eigentlich wollte. Bei "Dragon Age 2" wird das erfreulicherweise dadurch weitestgehend verhindert, daß jede Antwortmöglichkeit zusätzlich mit einem von etwa einem Dutzend Icons versehen ist, das die "Richtung" des Gesagten präzisiert (z.B. ein Fragezeichen für eine Frage, ein Herz für einen Flirtversuch, eine geballte Faust für einen aggressiven Kommentar). Ganz nebenbei hat man mit diesem gelungenen System auch das Problem von "Origins" gelöst, daß es bei etlichen Gruppenmitgliedern unmöglich war, die Freundschaft zu vertiefen, ohne gleich eine Liebesangelegenheit daraus zu machen. In "Dragon Age 2" sind die "romantischen" Dialoge ganz klar durch das Herz-Icon gekennzeichnet; wer solche Gesprächsoptionen also meidet, kann völlig problemlos eine "Nur"-Freundschaft schließen.

Minuspunkte:

- Größter Kritikpunkt ist ganz eindeutig das Leveldesign. Sehr lineare Level ist man von Bioware ja gewohnt, in "Dragon Age 2" sind sie aber leider NOCH linearer und auch kürzer geworden. Nicht gut. Was aber noch viel schlimmer ist: Bioware hat für alle Schauplätze nur eine gute Handvoll unterschiedlicher Grundrisse geschaffen, die immer und immer wieder verwendet werden - nur daß manchmal bestimmte Bereiche nicht betreten werden können (was dann meist durch äußerst häßliche Betonwände in den entsprechenden Durchgängen angezeigt wird down ) und Ein- und Ausgang vertauscht werden. Diese minimale kosmetische Verschleierung ändert aber natürlich überhaupt nichts daran, daß man jede Art von Dungeon innerhalb kurzer Zeit auswendig kennt. Und das ist für Bioware extrem peinlich. Klar, die Entwicklungszeit war deutlich kürzer als für "Origins" (wo es zumindest bei den Zufallsbegegnungen auch gelegentlich identische Orte gab, was angesichts der Fülle unterschiedlicher Dungeons insgesamt aber verschmerzbar war), aber diese Mini-Anzahl ist schon ein ziemliches Armutszeugnis! Zumal man sowieso die Hauptschauplätze aufgrund der drei Akte, in die das Spiel unterteilt ist, allesamt dreimal erforschen muß - teilweise sogar sechsmal, da in der Stadt Kirkwall auch noch in Tag und Nacht unterteilt wird!

- Ich glaube, es war Rei, die bereits bei "Origins" moniert hatte, daß man als Spieler letztlich zu wenig Einfluß auf den Fortgang der Handlung habe. Dort habe ich das nicht so empfunden, bei "Dragon Age 2" ist es jedoch definitiv der Fall. Vor allem im letzten Akt hat man als Spieler wirklich eher das Gefühl, Zuschauer eines (tollen) Films zu sein, ohne irgendeinen echten Einfluß ausüben zu können. Selbst die eigenen Partymitglieder zeigen sich plötzlich teilweise völlig immun gegenüber dem Einfluß des Spielerhelden - das ist schon ziemlich frustrierend, wenn es so deutlich ist wie hier. Im Nachhinein betrachtet wird klar, daß Bioware schlicht und ergreifend genau dieses Ende haben wollte (auch wenn es je nach Spielweise leichte Differenzen im Ausgang gibt), um den dritten Teil darauf aufbauen zu können. Eine solche Designentscheidung ist rational betrachtet natürlich nachvollziehbar - wenn Bioware beim dritten Teil die Ereignisse aus "Origins", "Awakening" und "Dragon Age 2" einigermaßen sinnvoll und glaubwürdig fortsetzen und vermutlich auch vereinigen will, dann ist das sowieso schon eine Herkulesaufgabe. Hätte "Dragon Age 2" nun kein so eindeutiges Ende, dann wäre es wahrscheinlich logistisch unmöglich, alle möglichen Entscheidungen der Spieler in der Handlung des dritten Teils abzudecken.
Das sagt einem der Verstand - es tröstet aber nicht darüber hinweg, daß man sich im dritten Akt tatsächlich irgendwie von seiner Umwelt ignoriert vorkommt (was umso schwerer wiegt angesichts der teilweise wirklich schwierigen Entscheidungen, die man fällen muß und die im Nachhinein betrachtet dann wohl doch eher ohne echte Bedeutung waren) ...

- Das Kampfsystem funktioniert zwar, wie oben geschrieben, flüssig und temporeich - ist dadurch aber meines Erachtens auch eindeutig anspruchsloser geworden. Aufgrund des extrem hohen, "Witcher"-artigen Tempos (wo man wohlgemerkt nur eine Figur direkt lenken mußte/durfte) ist es schlicht ein Ding der Unmöglichkeit, ständig alle vier Gruppenmitglieder sinnvoll im Kampf einzusetzen. Da muß man einfach oft auf die (recht gute) KI beziehungsweise die manuell voreingestellten Taktik-Komponenten vertrauen. Das ist nicht wirklich schlimm, zumindest im normalen Schwierigkeitsgrad sind die meisten Kämpfe sowieso recht einfach und die schweren kann man auch weiterhin durch guten taktischen Einsatz der Mitstreiter gewinnen - dennoch war mir das etwas gemächlichere Tempo der Vorgänger lieber.

- Die Geisel aller Rollenspieler: Bugs! Nein, sie sind nicht extrem zahlreich und mir sind auch keine Plotstopper begegnet, dennoch nervt einiges. Beispielsweise kann man eine Quest im dritten Akt nicht absolvieren, im Epilog wird mir eine Romanze mit Isabela unterstellt, obwohl es Merrill hätte sein müssen, und die Sternewertung im Inventar funktioniert auch nicht richtig (am deutlichsten zu sehen, wenn zwei völlig identische Gegenstände unterschiedlich bewertet werden ...). Dazu kommen noch ein paar Sachen, die keine wirklichen Bugs sind, sondern eher Unaufmerksamkeiten der Entwickler. Jüngstes Beispiel: Wenn man Merrill direkt nach einem für die Handlung entscheidenden blutigen Massaker anspricht, sagt sie sinngemäß: "Ein schöner Abend heute, nicht wahr?" Was garantiert nicht ironisch gemeint ist, sondern vermutlich einfach einer ihrer Standardsätze zu diesem Zeitpunkt des Spiels (auch wenn ich ihn sonst nie gehört habe). Solche Sachen, daß vor allem NPCs völlig unpassende Sachen sagen, geschehen immer wieder. Achja, und daß bei Kämpfen an öffentlichen Orten unbeteiligte NPCs einfach dastehen und dumm in die Gegend grinsen, während um sie herum die Körperteile fliegen, ist sogar Standard ...

- Nur noch den Spielerhelden darf man komplett selbst ausrüsten, bei den anderen Gruppenmitgliedern zeichnet man nur noch für die Bewaffnung verantwortlich. Einzelne Rüstungsteile kann man bei ihnen nicht verwenden, sie haben nur noch eine komplette Rüstung - die kann man zwar in vier Stufen aufwerten, das ist aber nur eine schwache Entschädigung. Bei diesem Punkt bin ich stur: Ich will alle meine Gruppenmitglieder komplett selbst ausrüsten können!

- Ich habe ja oft genug geschrieben, daß ich diese Item-Sammelwut, die es vor allem in Action-Rollenspielen á la "Diablo" gibt, absolut nicht leiden kann. Deshalb fand ich beispielsweise die "Drakensang"-Spiele so toll, wo man im gesamten Spielverlauf nur selten mal die Bewaffnung verändern mußte. "Dragon Age: Origins" hatte zwar deutlich mehr Items zu bieten, insgesamt war das aber IMHO noch absolut im Rahmen des Erträglichen. In "Dragon Age 2" ist es dagegen schlimm. Ursache: Die (verwendbaren) Gegenstände, die man findet, leveln mit den Helden mit. Man findet also in jeder zweiten Kiste irgendeinen Ring oder ein Amulett oder eine Waffe, die besser ist als alles, was man bereits besitzt ... DAS NERVT! Ganz ehrlich, ich will sowas nicht! Wenn ich meiner Sammelwut frönen will, dann ganz bestimmt nicht in einem Rollenspiel, bei dem es um Handlung, Charaktere und, ja, auch Kämpfe gehen soll, aber doch nicht ums Sammeln. Sowas regt mich einfach tierisch auf! mad

- Für ein Rollenspiel geradezu tragisch: Abgesehen von den Kämpfen und dem Schlösser knacken gibt es eigentlich keine Einsatzmöglichkeit mehr für Talente. Gerade sowas wie "Überreden" oder "Lügen" in den Dialogen ist meiner Meinung nach essentiell für ein echtes Rollenspiel und daß Bioware darauf (im Gegensatz zum Vorgänger) verzichtet, schmerzt meine Rollenspieler-Seele sehr. sad

So, damit müßten die wichtigsten Plus- und Minuspunkte abgedeckt sein. Erwähnen will ich noch die Spieldauer, die deutlich kürzer ist als bei "Origins", aber insgesamt immer noch absolut in Ordnung geht. Ich habe fast alle Nebenquests absolviert (im zweiten Akt habe ich zwei schlicht vergessen, weil sie noch nicht im Journal vermerkt waren - ist mir leider erst eingefallen, als ich bereits im dritten Akt war) und war nach knapp 65 Stunden durch. Für "Origins" habe ich ja sage und schreibe mehr als 300 Stunden verwendet (plus nochmal etwa 10 Stunden für die alternativen Origin-Geschichten), allerdings fällt bei "Dragon Age 2" alleine dadurch einiges an Zeitaufwand weg, daß etliche Kodexeinträge bereits im Vorgänger auftauchten und deshalb nicht nochmal gelesen werden müssen (ja, ich hab´ die bei "Origins" ALLE komplett gelesen grin ).

Fazit: "Dragon Age 2" ist ein gutes Spiel, das wiederum vor allem von Handlung und Charakteren lebt. Einige Veränderungen gegenüber "Origins" sind positiv, andere negativ. Letztere überwiegen, weshalb "Dragon Age 2" nicht an "Origins" herankommt. Vor allem das Level-Recycling und die Item-Sammelwut liegen mir schwer im Magen. Dennoch: Insgesamt habe ich erneut viele schöne Stunden in der Welt von "Dragon Age" verbracht und bleibe weiterhin Fan und Bewunderer der Erzählkunst von Bioware. Von "Dragon Age 3" erwarte ich mir aber eine deutlich Steigerung und vor allem eine harmonische Vereinigung des in "Origins", "Awakening" und "Dragon Age 2" Erlebten in einen spannenden Showdown - denn "Dragon Age 2" wirkt letztlich eher wie ein sehr ausführlicher Prolog zum eigentlichen Höhepunkt ...

Ich weiß nicht mehr, ob ich "Origins" hier eine Wertung gegeben habe, rückblickend wären es wohl etwa 85%. "Awakening" landet bei guten 80%, "Dragon Age 2" bei knappen 80%. Eben ein gutes Spiel mit einigen schwerwiegenden Mängeln.

Edit: Ich habe noch etwas zum Dialogsystem (positiv) und dem Talenteinsatz (negativ) hinzugefügt.

Last edited by Ralf; 09/04/11 09:41 AM.