Ich hab mir mehrfach überlegt, ob man dies nun in den Aufreger-Thread schreiben sollte oder doch hierher. Am Ende hat der Optimist in mir gewonnen und hier sind wir also. Es geht um die Wahlen im Irak, die am Sonntag stattfanden. Dazu ein meiner Meinung nach sehr gelungener Artikel im Spiegel:
Trotz der mörderischen Begleitumstände ist die Wahl im Irak ein Erfolg - für die Amerikaner, vor allem aber für das irakische Volk. Die Menschen haben mutig gegen den grassierenden Fatalismus votiert. Die neue Regierung wird internationale Hilfe brauchen - auch von denen, die bisher auf Distanz gesetzt haben.
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Die Wahl im Irak wird deshalb als politisches Paradox in die Geschichte eingehen. Wieder sind viele Menschen dem Terror zum Opfer gefallen - aber gleichzeitig ist der 30. Januar 2005 der Tag, an dem die meisten Menschen im Irak dem religiös befeuerten Fatalismus und der eifernden Gewalt den Kampf angesagt haben. Die schwarze Prosa, mit der die Dschihadisten potentielle Wähler von den Wahllokalen verscheuchen wollten, zeigte nur vereinzelt Wirkung. Sarkawi, dem Paten des Terrors, sind heute vom irakischen Volk die Grenzen aufgezeigt worden.
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Die Al-Qaida-Kommandos um den Jordanier Sarkawi und die mit ihm verbündeten Widerstandsgruppen des alten Saddam-Regimes hatten zwar erkannt, dass die Bekämpfung demokratischer Ideen und die Verhinderung ihrer Umsetzung noch wichtiger sein werden als alle Attacken auf US-Konvois. Der terroristische Krieg hatte sich in den vergangenen Monaten und Wochen deshalb verlagert. Es galt, freie und faire Wahlen im Irak um jeden Preis zu verhindern und die Vertreter dieser Entwicklung anzugreifen.
Ausführlich begründeten die Terroristen, warum sie Demokratie für eine gotteslästerliche Erfindung heidnischer Griechen halten. Für ihre offene Ablehnung der Selbstbestimmung des Individuums sollte man ihnen dankbar sein. Die Karten liegen jetzt auf dem Tisch. Vielleicht gibt nun auch der ein oder andere Bush-Hasser seine kühle Äquidistanz zu den Protagonisten des Terrors und den Akteuren der Transformation des Irak auf.
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Freilich bleibt der Irak auch morgen noch ein Land, in dem für viele Bewohner der Alptraum erst beginnt, wenn sie in aller Frühe aufstehen. Arbeitslosigkeit ist für die meisten jungen Männer die Regel, die Reichtümer des Landes liegen brach. Selbst der Handel mit den Nachbarstaaten steht kurz vor dem Zusammenbruch, denn die eigentlich komfortabel ausgebaute Autostrecke von Bagdad nach Amman wird inzwischen fast vollständig von Terroristen und Banditen beherrscht. Für die Dauer der Wahl wurde der stets von Raketenangriffen bedrohte Flugverkehr in Bagdad eingestellt, das Mobiltelefonnetz abgeschaltet, der Autoverkehr untersagt. Die Prävention des Terrors trägt am Tag der Wahl totale Züge - ebenso hässlich wie unvermeidlich.
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In den kommenden Tagen wird sich aus aller Welt ein warmer Wortschwall über Bagdad ergießen, auch Berlin wird in diese Diplomatenrhetorik investieren. Gute Wünsche kosten nichts und schmücken den Absender. Doch ein demokratischer Irak braucht viel mehr. Die grausame Tragödie Afghanistans nach dem Einmarsch der Sowjets hat mehr als 20 Jahre gedauert. Ab heute geht es darum, dem Irak ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Jede Regierung, die nun weiter aus großer räumlicher, politischer und moralischer Distanz auf Bagdads Rauchpilze starrt, "Oh Weh!" ruft, um anschließend das Versagen der Amerikaner zu beklagen, macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Der Preis, den auch das alte Europa für seine scheinbar smarte Politik der Nichteinmischung eines Tages zahlen muss, würde mit einem Anschwellen des Terrors im Irak nicht niedriger werden.
Europas ziviles Know-how ist im Irak dringend gefragt. Millionen Iraker haben heute gezeigt, wo der Ausweg aus der Krise liegt: Eine Irakerin in Bagdad hat heute vor einem Wahllokal gesagt, sie empfinde es als Pflicht, ihre Stimme abzugeben, weil dies ein Signal für Menschlichkeit und ein Zeichen gegen die Angst sei.
Das beste Mittel, eine Gesellschaft vom Terror zu befreien, ist so zu leben, als gebe es ihn gar nicht.
(Quelle: Spiegel ONLINE - die letzten Abschnitte wurden von mir in Fettdruck gesetzt)
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Und bevor mich wieder der eine oder die andere mißversteht: Ich war gegen den Krieg dort. Allerdings wurde mittlerweile eine neue Situation im Irak geschaffen, mit der man sich auseinander setzen MUSS! Und obwohl es klar auf der Hand liegt, daß die Amis in der Tat vieles falsche machen, ist es meiner bescheidenen Meinung nach eine sehr gute und bewegende Nachricht, daß so viele Irakische Menschen sich nicht vom Terror abschrecken lassen und zur Wahl gehen (ob die viel bringt, ist eine andere Frage). Das verdient Respekt. <img src="/ubbthreads/images/graemlins/up.gif" alt="" />
Nigel Powers: "There are only two things I can't stand in this world. People who are intolerant of other people's cultures... and the Dutch!"