WALK THE LINE:
Wie fast jedes Jahr spielt auch diesmal eine Biographie-Verfilmung eine große Rolle in der Award-Season. Nachdem es im letzten Jahr der exzentrische Milliardär Howard Hughes ("Aviator") und Soulmusiker Ray Charles ("Ray") waren, ist diesmal Country- und Rock ´n´ Roll-Legende Johnny Cash an der Reihe. Im Gegensatz zu den meisten dieser "Biopics" beschränkt sich James Mangolds "Walk the Line" jedoch auf einen relativ kleinen, frühen Zeitraum von Cashs Leben. Im Zentrum des Films stehen Cashs Aufstieg zum Musikstar, vor allem aber die komplizierte Liebesbeziehung zu seiner späteren Frau, der Sängerin June Carter.
Als die beiden sich auf einer Tournee kennenlernen, ist John Ray Cash (Joaquin Phoenix) bereits mit seiner Jugendliebe Vivienne (Ginnifer Goodwin aus der TV-Serie "Ed") verheiratet und June Carter (Reese Witherspoon) hat gerade eine Scheidung hinter sich, was in den USA der 50er Jahre nicht wirklich positive Schlagzeilen in den Medien brachte ...
Folglich besteht die Beziehung zwischen Johnny und June jahrelang eigentlich nur auf der Bühne, auf der sie gemeinsam singen - womit Johnny nicht wirklich klarkommt.
Abgesehen von der Konzentration auf einen bestimmten Zeitraum ist der auf Cashs eigenen Autobiographien beruhende und von ihm selbst vor seinem Tod noch mitproduzierte "Walk the Line" strukturiert wie die meisten Biopics. Auch wenn es nunmal Fakten sind, irgendwie scheint es immer das gleiche zu sein, was wir auch hier (nach einer kurzen, grandiosen Eingangssequenz) zu sehen bekommen: Die Kindheit wird durch ein tragisches, prägendes Ereignis überschattet, später gibt es Frauengeschichten, Ehestreit und Sucht. So gesehen ist "Walk the Line" also nichts wirklich besonderes, wenngleich alles tadellos inszeniert ist - allerdings ist gerade Cashs Medikamentenabhängigkeit in der Mitte des Films für meinen Geschmack etwas zu ausführlich und damit langatmig behandelt worden. Da hätte man den immerhin knapp 140 Minuten langen Film ruhig um ein paar Minuten kürzen können.

Trotzdem IST "Walk the Line" etwas Besonderes - und das liegt vor allem an der Musik und den beiden hervorragenden Hauptdarstellern!
Hierzulande kennt man Johnny Cash ja eher als Country-Legende, aber davon sollte sich wirklich keiner vom Filmbesuch abhalten lassen - denn "Walk the Line" konzentriert sich fast ausschließlich auf Cashs rockigere Phase, als er mit jungen, talentierten Künstlern wie Roy Orbison, Jerry Lee Lewis oder Elvis Presley auf Tour war. Ich persönlich kannte bis auf ein paar Highlights (speziell "Ring of Fire" natürlich) nichts aus diesen frühen Jahren seiner Karriere und war dementsprechend erstaunt und begeistert!

Und damit wären wir auch schon bei den Darstellern, denn Joaquin Phoenix spielt hier mit Sicherheit die Rolle seines Lebens! Es ist ja eigentlich schon ein Klischee, aber Phoenix spielt die Rolle nicht nur, er LEBT sie. Und (das hebt ihn von Jamie Foxx ab, der letztes Jahr für seine ansonsten hervorragende Darstellung des Ray Charles den OSCAR als bester Hauptdarsteller erhielt) er singt alles selbst! Er versucht dabei nicht, den echten Cash nachzuahmen - nein, er verleiht den Lieder einen ganz eigenen, sehr passenden Charakter. Und er hat - zu seiner eigenen Überraschung, wie er glaubhaft versichert <img src="/ubbthreads/images/graemlins/winkwink.gif" alt="" /> - eine sensationelle Stimme!
Allgemein sind die Auftritte von Johnny Cash mit seiner Band und mit June Carter die Highlights des Films, aber das alles toppt der legendäre Auftritt im Gefängnis von Folsom kurz vor Schluß des Films. Joaquin Phoenix in dieser leider viel zu kurzen Szene zuzuschauen, ist nichts weniger als faszinierend - er scheint sich regelrecht in einen Rausch zu singen und es ist allzu offensichtlich, daß er sich zumindest bei diesem einen Auftritt wirklich wie ein Rockstar fühlte und nicht wie ein Schauspieler, der einen Rockstar spielt. Einfach phantastisch! <img src="/ubbthreads/images/graemlins/up.gif" alt="" />
Dagegen verblasst selbst Reese Witherspoon, obwohl auch sie in der Rolle der June Carter eine sehr, sehr starke Leistung abliefert und ebenfalls selbst singt. Der Witz an der Sache ist: Witherspoon wird wohl einen OSCAR gewinnen, Phoenix voraussichtlich nicht ... (immerhin haben beide bereits den Golden Globe erhalten)
Fazit: "Walk the Line" ist ein im Grunde genommen eher konservativ inszenierter Film, der von toller Musik und sensationellen Leistungen seiner Hauptdarsteller lebt.
Wer mit der Musik überhaupt nichts anfangen kann, ist sicherlich falsch in diesem Film (aber ich betone noch einmal: Es handelt sich NICHT unbedingt um Country-Musik, zumindest nicht die Art von Country-Musik, die man sich bei uns häufig darunter vorstellt!). Ansonsten kann ich "Walk the Line" aber bedenkenlos weiterempfehlen. 8,5 Punkte.

Last edited by Ralf; 08/02/06 02:04 PM.